- 136 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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zu stellen sind: »Aufgabe der Philosophie ist es ... die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren ... aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt« (335). »Aufhebung« meint hier nicht im Sinne Hegels, dialektische Aufbewahrung im Begriff, wodurch die Deutung der Wirklichkeit »im geschlossenen Raum von Erkenntnis« verbliebe, vielmehr zielt diese unmittelbar auf die Praxis: »aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen erfolgt ... die Forderung nach ihrer realen Veränderung« (338). Vor dem Hintergrund der expliziten philosophischen Theorie des frühen Adorno, die ihre Verfahrensweise deutlich benennt, mag sich seine Deutung der Musik Schönbergs und Strawinskys vielleicht weniger anstößig ausnehmen, als sie einer positivistischen, unphilosophischen Rezeption lange Zeit erschienen ist. Adorno arbeitet durch Konstellationen der werkanalytischen Befunde beider Komponisten in einer geschichtsphilosophischen Konstruktion der »Idee der Werke und ihres Zusammenhangs« folgende Grundlinien heraus: Die Musik von Schönberg, der sich strikt den Anforderungen des »aktuellen« Stands des Materials stellt, verleiht der Einsamkeit, der Entfremdung, dem Leiden des Subjekts Form und Ausdruck. Hingegen zeigen Strawinskys Kompositionen, die sich – im Bemühen um ästhetische Verbindlichkeit – an traditionellem, aber geschichtlich »zerfallenen« Material orientieren, die »Liquidierung« des Subjekts durch die Gesellschaft. Dialektisch aufeinander verwiesen und zugleich je für sich bringen die Werke beider Komponisten eine geschichtlich »authentische« Wahrheit zur Erkenntnis. Steht die Musik der neuen Wiener Schule ein für das leidende Subjekt, dessen Wahrheit sie offenbar macht und dessen Intention sie vertritt, so zeigt die Musik Strawinskys die Wahrheit der totalitären Gesellschaft, die – in der Zerstörung des Subjekts – als »Ganze« für Adorno das »Unwahre« ist. Strawinskys Werke sind ohne Transzendenz, sie eröffnen keine utopische Perspektive. Anders jedoch die Werke der Neuen Musik: »Im Akt der Erkenntnis, den Kunst vollzieht, vertritt ihre Form Kritik am (gesellschaftlichen) Widerspruch dadurch, dass sie auf die Möglichkeit seiner Versöhnung weist und damit auf das Kontingente, überwindbare, Nichtabsolute am Widerspruch.« 11
11 Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 12. 119.
In der Konstellation von Immanenz und Transzendenz gewinnen die Werke eine utopische Perspektive, die aber negativ, »bilderlos« bleibt. Hier ist die Grenze der Erkenntnis von Wahrheit in der Kunst erreicht, die »Rätselhaftigkeit« der Werke tritt ans Licht. Obwohl ihr ein Nicht-Lösbares inhäriert, ist dieses nicht der Werke »Letztes, sondern jedes authentische Werk schlägt auch die Lösung seines unlösbaren Rätsels

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