- 129 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Marschrhythmus, um aus dem lahmen, zögernden oder auch nur ängstlichen Carlos einen Handlungsträger zu machen. In dieser Sekunde fällt der Schuß. Sterbend singt er seine große Arie, schon von der ›überirdischen‹ Begleitung der Harfe geleitet. Es gibt wenig vergleichbare Szenen der Operngeschichte, die so viele Aspekte des Sterbens um einer Sache wegen subsumieren. Und dabei – dies vergesse man nicht – stirbt Posa nur stellvertretend, sieht er den Tod als Opfer an. Dies tut er nicht etwa um seines eigenen Vorteils wegen, sondern weil er keine andere Chance für die Veränderung der politischen Situation sieht.

Ich habe schon angedeutet, daß die Komponisten sehr sorgsam mit der unmittelbaren Darstellung der Selbsttötung umgehen. Im wesentlichen wird diese von fast allen vermieden, obwohl sie sich – und dies zeigt die Musikgeschichte auch ganz deutlich – den Selbstmord im Rahmen der musiktheatralischen Erzählstruktur als eine Handlungsalternative vorstellen können. Dennoch weigern sie sich, den letzten Schritt – so scheint es mir – zu gehen. Warum? Es könnte sein, daß eine christliche Heilslehre, die dem Selbstmord immer ablehnend gegenüberstand, ihre Spuren im Denken der Komponisten hinterlassen hat. Für eher wahrscheinlich halte ich allerdings eine gewisse Analogieform der Systeme Religion und Kunst; Stichworte: Theologie wie Kunst haben Zielvorstellungen außerhalb der realen Existenz; die Konzentration auf zentrale und wesentliche Anliegen des Mensch-Seins lassen Ablenkung, Verwirrung und Sich-Lösen aus dem Verband kaum zu. Und: In der Logik der Argumentation ist der Suizid mit seiner Benutzung des emotionalen Außer-sich-Geratens eine Dimension außerhalb einer darzustellenden Kontrollinstanz von Moral und zeitloser Gültigkeit. Dies bedeutet nicht die Mißachtung des Umstands, daß gesellschaftliche Zwänge das Individuum in Bedrängnis und Not führen können, daß Krankheit oder auch Lebensüberdruß möglich sind. Aber Kunst begnügt sich nicht mit Beschreibung der Realität, sondern trägt in sich qua Definition immer auch den Schimmer der Utopie, ein suprahumanes Konzept, eine Vorstellung von einem metaphysischen Sein, das parallel zum existentiellen, zumindest in seinen Umrissen schemenhaft erkennbar gemacht werden muß. Und deswegen, glaube ich, ist es mit der Ankündigung des Selbstmordes bei positiv besetzten Handlungsträgern auch getan, ist die schmerzvolle Bewußtwerdung der Möglichkeit nahezu so viel wie der Vollzug.

4 Suizid angekündigt?

Ich belege dies an zwei Beispielen, die nicht zufällig von einem Komponisten stammen, der neben Giuseppe Verdi und Claudio Monteverdi diesem


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