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Selbstmord als Erlösung
Die zweite Kategorie meiner musikalischen Systematisierung des Suizids betrifft
den Selbstmord als Erlösungsstrategie. Prototypisch für die Alternative
ist der Tod der Tosca, nicht geplant und eigentlich exakt das Gegenteil von
dem, was sie noch vier musikalische Minuten zuvor glaubte. Eine Blitzentscheidung,
die szenisch auch als Flucht vor der sicheren Gefangennahme gewertet werden
kann, musikalisch aber eine ganz andere Dimension anspricht: nämlich
den Sprung aus einer Realität, die sie nicht bewältigen konnte,
weil sie weder ihre eigene Rolle im System verstand noch die schauspielerische
Dimensionierung ihres Todfeindes, der sie in ihrem eigenen Fach, dem Schauspielgenre
der Primadonna, austrickst. Es wird ihr quasi die doppelte Vernichtung von
all dem, was sie für die anderen darstellt, so drastisch vor Augen geführt
wird, daß ihr einfach keine andere Lösung bleibt als der Sprung
von der Engelsburg. Und so gelten ihre letzten Worte nicht dem toten Geliebten,
sondern dem Betrüger Scarpia, den sie ohnehin schon vom Leben zum Tode
beförderte, dessen Intrige aber länger als sein eigenes Leben währte
und damit über sie den Sieg davontrug. Der Schrei nach Gott als letztes
gesungenes Wort ist nicht die Bitte um Erlösung, nicht das Flehen um
Gnade für eine andere Welt, sondern der Schrei nach Gerechtigkeit, die
in der menschlichen Gesellschaft – so die Moral von der Geschichte – keine
Chance hat.
Wolfgang Amadeus Mozart hat keine konkrete Selbstmordszene im eigentlichen
Sinn komponiert, vermutlich weil ihm die Idee trotz des Wissens um menschliche
Endlichkeit aus theologischen und moralischen Erwägungen völlig
fremd war. Er hat aber zwei Szenen geschrieben, die unmittelbar mit der Selbstmordthematik
verbunden sind. Deren eine kann unter dem Aspekt ›Alternative zum bewußten
Leben‹ interpretiert werden. Im Finale des zweiten Aktes des
Don Giovanni müßte man genauer von einer erzwungenen Alternative
sprechen. Mozart hat die ganze Oper hindurch vom ersten Akkord der Ouvertüre
an, der mit dem Beginn der entscheidenden Todesszene korreliert, diese Thematik
im Auge gehabt. Die Kunstfigur des Don Giovanni ist nicht nur ein Bonvivant
und sexueller Genießer, nicht nur ein unersättlicher Kraftprotz
oder ein Kumpan des Faust, nicht nur eine Mozartparodie, eine Psychoanalysestudie,
ein Imperalismusagent oder eine Science-fiction-Figur – allesamt Modelle,
die in den Inszenierungen der letzten Jahre zur Diskussion gestellt wurden.
Dieser Don Giovanni ist auch der Vertreter einer neuen Generation, von Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit, inspiriert mit dem existentialistischen
Touch einer individuellen Moral, die meistens zur Priorität des eigenen
Vorteils vorkommt, und deren Grenzen aus irdischer Dimensionalität jedenfalls
nicht gesetzt werden kann. Sie
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