- 126 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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2 Selbstmord als Erlösung

Die zweite Kategorie meiner musikalischen Systematisierung des Suizids betrifft den Selbstmord als Erlösungsstrategie. Prototypisch für die Alternative ist der Tod der Tosca, nicht geplant und eigentlich exakt das Gegenteil von dem, was sie noch vier musikalische Minuten zuvor glaubte. Eine Blitzentscheidung, die szenisch auch als Flucht vor der sicheren Gefangennahme gewertet werden kann, musikalisch aber eine ganz andere Dimension anspricht: nämlich den Sprung aus einer Realität, die sie nicht bewältigen konnte, weil sie weder ihre eigene Rolle im System verstand noch die schauspielerische Dimensionierung ihres Todfeindes, der sie in ihrem eigenen Fach, dem Schauspielgenre der Primadonna, austrickst. Es wird ihr quasi die doppelte Vernichtung von all dem, was sie für die anderen darstellt, so drastisch vor Augen geführt wird, daß ihr einfach keine andere Lösung bleibt als der Sprung von der Engelsburg. Und so gelten ihre letzten Worte nicht dem toten Geliebten, sondern dem Betrüger Scarpia, den sie ohnehin schon vom Leben zum Tode beförderte, dessen Intrige aber länger als sein eigenes Leben währte und damit über sie den Sieg davontrug. Der Schrei nach Gott als letztes gesungenes Wort ist nicht die Bitte um Erlösung, nicht das Flehen um Gnade für eine andere Welt, sondern der Schrei nach Gerechtigkeit, die in der menschlichen Gesellschaft – so die Moral von der Geschichte – keine Chance hat.

Wolfgang Amadeus Mozart hat keine konkrete Selbstmordszene im eigentlichen Sinn komponiert, vermutlich weil ihm die Idee trotz des Wissens um menschliche Endlichkeit aus theologischen und moralischen Erwägungen völlig fremd war. Er hat aber zwei Szenen geschrieben, die unmittelbar mit der Selbstmordthematik verbunden sind. Deren eine kann unter dem Aspekt ›Alternative zum bewußten Leben‹ interpretiert werden. Im Finale des zweiten Aktes des Don Giovanni müßte man genauer von einer erzwungenen Alternative sprechen. Mozart hat die ganze Oper hindurch vom ersten Akkord der Ouvertüre an, der mit dem Beginn der entscheidenden Todesszene korreliert, diese Thematik im Auge gehabt. Die Kunstfigur des Don Giovanni ist nicht nur ein Bonvivant und sexueller Genießer, nicht nur ein unersättlicher Kraftprotz oder ein Kumpan des Faust, nicht nur eine Mozartparodie, eine Psychoanalysestudie, ein Imperalismusagent oder eine Science-fiction-Figur – allesamt Modelle, die in den Inszenierungen der letzten Jahre zur Diskussion gestellt wurden. Dieser Don Giovanni ist auch der Vertreter einer neuen Generation, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, inspiriert mit dem existentialistischen Touch einer individuellen Moral, die meistens zur Priorität des eigenen Vorteils vorkommt, und deren Grenzen aus irdischer Dimensionalität jedenfalls nicht gesetzt werden kann. Sie


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