- 111 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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zur Zeit der Verfolgung, entstand eine größere Komposition für Chor a cappella, kleines Orchester, drei Trompeten und Klavier, die Marienpassion op. 18. Sehr persönlich und ein wenig artifiziell ist die Weise, wie die Komponistin in fünf Instrumental- und 3 Vokalsätzen, denen eigene Texte zugrunde liegen, in anbetender Betrachtung die Stationen des Marienlebens von der Verkündigung bis zu den Leiden und der Verklärung Marias in Musik setzt und damit dem eigenen Schmerz und seiner Überwindung Ausdruck verleiht, wie sie – auch hier zwischen Tradition und Moderne – freitonale kontrapunktisch durchgeführte Instrumentalsätze und schlichte archaisierend tonale Chorsätze gegenüberstellt. Bei ihrer Ursendung im Sender Hamburg, die offenbar noch 1934 möglich war, wurde die Passion sehr positiv aufgenommen: wegen »ihres hohen Stimmungswertes und als Erlebnis ganz seltsamer, mystischer Tiefe« und »als ein Werk, das den hohen Schöpferwert der Komponistin verrät.«

Nach der Machtergreifung Hitlers wurde Dr. Michaels als Richter schon 1933 aus dem Staatsdienst entlassen, seine Frau einem Berufsverbot unterworfen, das ihr nach und nach die Aufführungen ihrer Werke wie auch das Konzertieren als Pianistin verwehrte. Nur noch im privaten Rahmen konnte Ilse Fromm-Michaels ihr künstlerisches Wirken fortsetzen. Sie gab Hauskonzerte mit befreundeten Musikern und unterrichtete eine Anzahl von Schülern, Kinder ebenfalls rassisch oder politisch belasteter Eltern, in ihrem Hause. Dies war einerseits notwendig, um das reduzierte Familieneinkommen zu ergänzen. Vor allem aber galt es, die Identität als Künstlerin aufrechtzuerhalten, Gegenkräfte zu entwickeln gegen den Druck der Isolation, der Diskriminierung, der Angst vor den zunehmenden Zwangsmaßnahmen des Regimes und später den Einwirkungen des Krieges.

In dieser Zeit war ich, ebenfalls Tochter aus einer ›Mischehe‹, der ein Hochschulstudium verwehrt war, Schülerin von Ilse Fromm-Michaels. Ich erlebte die unvergesslich dichte, musikerfüllte Atmosphäre in ihrem Hause, ihrem großen Musikzimmer mit den Biedermeier-Möbeln und den alten Bildern (darunter auch das von Anita Rée gezeichnete Porträt Ilse Fromms), in dem zwei Steinway-Flügel standen. Hier studierten wir Klavierwerke aller Epochen, erhielten Unterricht in Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre. Höhepunkte waren die Aufführungen sämtlicher 23 Klavierkonzerte von Mozart durch die Schüler auf zwei Flügeln. Ilse hatte zu ihnen zwanzig Kadenzen komponiert. Sicher hat sie in ihren Konzerten als Solistin der Mozartkonzerte eigene Kadenzen gespielt. In diesen Unterricht floß also mehr als wir damals ermessen konnten, Ilse Fromms Erfahrung als konzertierende Pianistin und ihr Wissen und ihre Fantasie einer schöpferischen Komponistin ein. Wenig ließ sie jedoch erkennen, wie sie unter den Einschränkungen, denen sie unterworfen war, litt, sprach aber wohl unvermittelt während des


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