- 109 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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ihren eigenen Weg geht: im Grenzbereich zwischen Tradition und Moderne. Indem sie tradierte Formprinzipien thematischer und kontrapunktischer Arbeit, die sie souverän beherrscht, mit einer im späteren Werk immer mehr sich befreienden Tonalität verbindet, hält sie sich gleich weit entfernt von Eklektizismus oder der Übernahme fremder, »moderner« Stilrichtungen, schafft sie sich ihre ganz persönliche, ausdrucksstarke und charaktervolle Tonsprache.

Die ersten Werke, die die Komponistin als gültig anerkannte (ein Teil ihrer Arbeiten fiel einer strengen Selbstzensur zum Opfer), sind die Klavierzyklen Vier Puppen op. 4 und Acht Skizzen op. 5 (1908 im Druck erschienen). Die Vier Puppen, in ihrem durchsichtigen Satz ironisch gebrochene Kinderszenen, die etwas von dem skurrilen Humor zeigen, der Ilse Fromm eigen war; die Acht Skizzen sind kurze Entwürfe verschiedener musikalischer Ausdruckscharaktere, die einen Reichtum origineller Gedanken enthalten, geeignet, um aus ihnen größere Formverläufe zu entwickeln.

1915 heiratete Ilse Fromm den musikinteressierten jüdischen Landrichter Dr. Walter Michaels. In den folgenden Jahren entstanden neben einer umfangreichen Konzerttätigkeit die ersten größeren Klavierwerke, die Sonate op. 6 (1917) und die Variationen über ein eigenes Thema op. 8 (1918/1919), dazwischen ein origineller Walzerreigen op. 7. Die Sonate, 1917 während des ersten Weltkrieges entstanden, ist nach traditionellem Muster dreisätzig angelegt. Sie läßt in mancher Hinsicht noch den Einfluß Pfitzners erkennen, zeigt darüber hinaus aber schon den kraftvollen, ausdrucksstarken Duktus und die komplexe Satzarbeit der reifen Komponistin Ilse Fromm-Michaels. Mit großer Konsequenz führt sie im ersten, in freier Sonatenform gehaltenen Satz das kontrastierende thematische Material durch, einen straffen punktierten und einen triolisch fließenden Rhythmus (vielleicht i. S. von Aufbegehren und Klage zu deuten). Seine Varianten erscheinen auch in den beiden anderen Sätzen, so z.B. im Trauermarschrhythmus des zweiten Satzes und in der Motivik des unruhigen dritten Satzes. Diese Substanzverwandtschaft weist schon voraus auf die 1938 komponierte Symphonie, in der alle vier Sätze zu einer großen thematisch verknüpften Gesamtform zusammengeschlossen werden. Die Sonate spielte Ilse Fromm-Michaels 1918 dem Dirigenten Arthur Nikisch vor, der sie daraufhin als Solistin des d-moll-Konzertes von Rachmaninoff ins Leipziger Gewandhaus engagierte.

Die Variationen fis-moll op. 8 sind ein weiträumiges, pianistisch überaus anspruchsvolles Klavierwerk. Das 16taktige Thema klingt, wie eine Hommage für Schumann, an das Albumblatt aus op. 99 an, über das Clara Schumann und Brahms Variationen schrieben. Ilse Fromms Variationen aber gehen mit ihren formalen Ausweitungen und Verkürzungen, ihrem Fluktuieren durch die Tonarten und der Beimischung dissonanter Klänge, der Schärfe


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