- 14 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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sikalischen Bewegungsfunktionen von der körperlichen Bewegung ableiten. Adorno betrachtet Kurths Kategorien der Bewegung als "originäre Phänomene des musikalischen Bewußtseins und Unbewußtseins ..."(Adorno, "Ernst Kurths Musikpsychologie" 352). Gegenüber dem äußeren, anschaulichen Raum betont er mit Ernst Kurth die Unabhängigkeit eines Raumes der inneren Gehörswelt. Tanzpsychologie und Tanzgeschichte sind für Adorno Randerscheinungen der Kultur- und Geistesgeschichte. Die Trennung von Musik und Tanz steht aber, wie im folgenden zu zeigen ist, keineswegs im Einklang mit der kompositorischen Praxis selbst der von Adorno favorisierten Komponisten der Zweiten Wiener Schule und ihrer Nachfolger.

     In den Werken des 1918 in Bliesheim bei Köln geborenen Komponisten Bernd Alois Zimmermann nehmen Tänze und Bewegungsformen der verschiedenen Zeiten und Kulturen eine zentrale Stellung ein. Den bei Ernst Kurth zentralen Begriffen Rhythmik, Melodik und Form entsprechen bei Zimmermann Zeit, Intervall und Bewegung. In seinem Aufsatz "Intervall und Zeit" (1957) bezeichnet Zimmermann das Intervall als Ausgangspunkt eines umfassenden Systems von Tonbeziehungen. Bereits im einzelnen Ton werden vielfältige Intervallbeziehungen wirksam. Der auf dem Klangspektrum der Obertonreihe beruhende Einzelton erscheint als Zusammenklang. Infolge der elementaren Beziehung zwischen Intervall und Zeit ist es möglich, Intervalle in die zeitliche Vertikale wie in die Horizontale zu projizieren. Den Klang bezeichnet Zimmermann als "Nacheinander der Töne im Zeitabstand Null, Tonfolge als Gleichzeitiges in der Zeit verschoben: Vertauschbarkeit der musikalischen Dimensionen, Identität des scheinbar Verschiedenen" (B. A. Zimmermann, "Intervall und Zeit" 11).

     In der Musik als Zeitkunst sieht Zimmermann die Vorstellung von der Einheit der Zeit als einer Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verwirklicht. Die menschliche Seele vermag den flüchtigen Augenblick zu übergreifen, indem sie Geschichtliches und Zukünftiges in die Gegenwart einbezieht. Der schon bei Augustinus zu findende und stets moderne Gedanke von der Einheit der Zeit im menschlichen Erleben ist für Zimmermann Grundlage und Perspektive der Musik als Zeitkunst. Derselbe Gedanke bestimmt die moderne Malerei, Tanz und Theater, die Dichtkunst, die Bildenden Künste. Zimmermann unterscheidet die äußere, meßbare Zeit von der inneren, organisierten Zeitstruktur des musikalischen Kunstwerks. Zentral ist bei ihm der Gedanke, daß die Vorherrschaft der äußeren Zeit in der Zeitwahrnehmung durch Organisation der inneren Zeitstruktur der Werke aufgehoben und überwunden werden kann. Zeitlosigkeit in der Musik entsteht durch die Ableitung aller Zeit- und Intervallverhältnisse aus einem einzigen musikalischen Motiv.


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