- 15 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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In einem Aufsatz über den 1583 in Ferrara geborenen Komponisten Girolamo Frescobaldi erläutert Zimmermann (1962) sein Verständnis von Intervall und Zeit am Beispiel von dessen Capricci. Bei Frescobaldi ist das auch für die Musik des 20. Jahrhunderts charakteristische Bestreben zu erkennen, das gesamte kompositorische Gefüge aus einer einzigen Keimzelle zu entwickeln. Der Begriff des Tempos ist in Bezug auf die Musik Frescobaldis unhaltbar. Seine Werke beruhen auf Proportionen, welche die zeitliche Ordnung und das Tongefüge innerhalb der Komposition bestimmen. Die auch für die Musik Anton von Weberns charakteristischen schwebenden Klangeindrücke beruhen auf der inneren Einheit von Intervall und Zeit.

     Zimmermann erläutert seine Vorstellungen am Beispiel von Frescobaldis Capriccio sopra La Sol Fa Re Mi aus dem ersten Buch der Capricci, Ricercari und Canconi. Dem Werk liegt die im Titel genannte Fünftonreihe zugrunde. Alle Tonhöhen sind ihrer Zeit- und Intervallstruktur nach aus Umkehrungen jener Fünftonreihe abgeleitet. Frescobaldi verwendet, wie nach ihm Schönberg Berg und Webern, Grundreihe, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung (B. A. Zimmermann, "Frescobaldi" 28). Der Fünftongruppe des genannten Capriccio stehen fünf verschiedene "Zeitstrecken" gegenüber, die als Tempomodifikationen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Grundreihe der fünf Töne und ihrer Modifikationen als Spiegelgestalten in der Zeit stehen. Ein vergleichbares Verfahren findet Zimmermann in Josquins zweitem Agnus Dei der Missa L'homme armé super voces musicales, in der ein dreistimmiger Kanon aus einer einzigen Melodie gebildet wird, indem sie gleichzeitig in drei verschiedenen Tempi erklingt (Vgl. B. A. Zimmermann, "Frescobaldi" 29). Die Überwindung des Scheins der äußeren Zeit, in welche die Musik hineingestellt wird, gelingt in beiden Fällen durch Organisation der Zeit- und Intervallproportionen, welche durch die Komposition innerhalb der Musik wirksam ist.

     Im Verlaufe seiner Schrift "Intervall und Zeit" von 1957 unterscheidet Zimmermann den musikalischen Zeitbegriff von dem philosophischen. Seit Platon und Aristoteles erscheint die Zeit in der Philosophie als eine nicht wiederholbare und unumkehrbare Veränderung von Gegenständen. In Analogie zum Raum erhält die Zeit den Charakter einer absoluten Realität. Ihr stellt Bergson im 20. Jahrhundert die innere Zeit entgegen, eine Zeit der Bewegung, des Flusses und der Dauer; eine Vorstellung freilich, die dem abendländischen Denken seit Heraklit ebenso vertraut sein mußte wie die objektiv meßbare, kosmische Zeit. Mit Edmund Husserl spricht Bernd Alois Zimmermann vom inneren Erlebnisbewußtsein oder Erlebnisstrom. Effektiver Zeit und Erlebniszeit kommen besondere Bedeutung im Hinblick auf die theoretische Begründung der Musik zu. Sie unterliegt zum einen einer objektiven Zeit, da sie einer Zeitstrecke zu ihrer Aufführung bedarf. Von der Dauer der Interpretation, dem


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