- 12 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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und Ich-Werdung thematisieren. Von hier aus finden wir zum expressionistischen Musiktheater der "Wiener Schule" zurück, das jene mythologisch verwurzelten und musik- und tanzhistorisch überlieferten Strukturen wiederentdeckt. Durch historische Rückbezüge auf mythologische und religiöse Quellen wird deutlich, daß es möglich ist, die Angst in allen Bereichen der Kultur und der Kulturgeschichte des Abendlandes im einzelnen greifbar zu machen, sie gleichsam bei der Hand zu nehmen und ein Stück Wegs mit ihr zu gehen, um sie besser kennen und verstehen zu lernen.

     Einiger Erläuterungen bedarf der hier verwendete Begriff der Bewegung. Im Zusammenhang der musikalischen Bewegungen spricht Ernst Kurth in seiner Musikpsychologie von 1931 von Energie, Kraft und Fluß in der Musik. Im Nacheinander der ablaufenden Töne, Klänge, Betonungen und Formeinheiten äußert sich eine fließende Kraft. Durch innerseelische Raumvorstellungen verbindet unser Empfinden die Vielzahl musikalischer Einzeleindrücke zur musikalischen "Form". In die Tonwelt greifen räumliche Vorstellungen ein, die sich vom äußeren, anschaulichen Raum unterscheiden. Sie fassen die musikalischen Bewegungen zu Bewegungsbildern zusammen. Raumvorstellungen der inneren Gehörswelt sind mit den musikalischen Formen untrennbar verbunden. Von den Formen sind die stets wechselnden Eindrücke musikalischer Einzelmomente zu unterscheiden. Letztere sind gleichsam Querschnitte innerhalb eines musikalischen Formverlaufs.

     Für Ernst Kurth besteht die Besonderheit des Musikhörens darin, daß Bewegung und Bewegungsbild (Teileindruck und Gesamteindruck, zeitlicher und räumlicher Aspekt der Musik) stets miteinander verbunden sind. Der Eindruck von Musik ist weder rein räumlich noch ausschließlich zeitlich bedingt. Der räumliche Eindruck ist nach Ernst Kurths Auffassung weniger bewußt als der zeitliche. Andererseits ist die musikalische Form, Kurth spricht von der "Einheitsverbindung" oder dem "Bewegungsbild", als Negation des konkreten Zeitverlaufs in der Musik anzusehen. Bewegung und Bewegungsbild ergänzen sich und schließen sich zugleich wechselseitig aus. Das widersprüchliche, eigentlich "dialektische" Wesen der Musik liegt in der Eigentümlichkeit ihres Doppelcharakters als Bewegung und Form begründet. Raumvorstellungen im Sinne musikalischer Formen entstehen beim "Überschauen" eines zeitlichen Verlaufs der Musik. Sie ist, mit Thomas Mann zu sprechen, "die Zweideutigkeit als System" (Doktor Faustus, 53).

     Die musikalischen Formen dringen bei Ernst Kurth nicht bis zur optischen Vergegenwärtigung vor. Visuelle Vergegenwärtigung kann jene Raumvorstellungen der musikalischen Gehörswelt geradezu zerstören. Zugleich sind die musikalischen Formen nicht beliebige sondern zwangsläufig mit dem Eindruck der Musik verbundene


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