- 11 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Die Neuzeit trennt den Gottesgedanken von der Erfahrung des Todes. In den hochtechnisierten Zivilisationen zerrinnt das Erleben des natürlichen Todes im Alltag zusehends. In der geschichtlichen Überlieferung finden wir die Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod mit dem Bilde des Labyrinths verbunden. Das Labyrinth des Dädalos ist ursprünglich das Kunstwerk schlechthin. Das Urbild "Labyrinth" streift sich von den äußeren Erscheinungsformen selbst der neuzeitlichen Künste nur um den Preis ihrer Banalität ab, die selber erschrecken macht. Nicht zufällig wird in der Moderne der Schock zum Formgesetz der Künste. Der Versuch, der menschlichen Angst zu begegnen, verbindet die divergierenden Künste im 20. Jahrhundert. Die vorliegende Arbeit protokolliert Momente jener Begegnung. Sie möchte Strukturen der ästhetischen Erfahrung und Verarbeitung von Angst verdeutlichen.

     Der erste Teil des Buches gilt der Angst vor dem Selbst. Gegenstand der Untersuchung sind Wechselwirkungen charakteristischer Bewegungsimpulse und Bewegungsbilder (Formtendenzen) in der Musik und im Musiktheater seit der Wiener Moderne. In einem beobachtbaren Augenblick menschlicher Bewegung und Gestik wirken gleichzeitig in beweglichen Anteilen gegensätzliche Bewegungsantriebe und Bewegungsimpulse auf den sich Ängstigenden ein. Das Maß der zeitlichen Verdichtung der gegensätzlich wirkenden Kräfte übersteigt im Moment der Musikwahrnehmung in der Regel das analytische Auffassungsvermögen des Hörers. Beim Studium der Partituren musikalischer Bewegungskomposition werden die sich überlagernden rhythmischen Strukturen ametrischer Bewegungen deutlicher. Die Untersuchung von Musik, die ängstliche Bewegungen begleitet, gibt Hinweise auf die rhythmischen Strukturen und auf die Intensität jener antagonistisch wirkenden Kräfte. Dazu dient die exemplarische Analyse einer Bewegungsfolge aus dem Monodram Erwartung opus 17 von Arnold Schönberg im ersten Teil des Buches.

     Der zweite Teil der Untersuchung handelt von der Angst vor dem Tode. Er beginnt mit einem Beispiel aus dem ausgehenden 18. Jahrhunderts, mit jenem historischen Zeitpunkt gesteigerter "Empfindsamkeit", von welchem die im 20. Jahrhundert festzustellende Auflösung klassischer Musik- und Tanzformen ihren Ausgang nimmt. Als geeignetes Beispiel erscheint der Walzer zur Zeit des jungen Goethe. Er weist historische Verbindungen zur klassischen Antike wie zur unmittelbaren Gegenwart auf. An seinem Beispiel werden die der Angst eigenen gegensätzlichen Kräfte, die zur Verdichtung der Gestaltung, zur Formauflösung und zur unendlichen Variation tendieren, deutlich. Das Beispiel der Tanzschilderung in Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther eignet sich über seine Verbindungen zur griechisch-antiken Mythologie hinaus dazu, an außereuropäische Tanz- und Erzähltraditionen anzuknüpfen, die ihrerseits die Angst des einzelnen im Prozeß seiner Persönlichkeitsentwicklung


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