- 113 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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nicht die Rede. ... Freylich, daß der Mann, der mir eine alexandrinische Übersetzung des Essay on Criticism so ängstlich empfehlen wollen, ein halbes Jahr nachher ein großes Genie heißen sollte, daß über alle Regeln sich erhöbe, nahm mich Wunder ...".

(Lenz, Dramen 442-443)


Im Sommer 1775 ahnt Lenz, daß er nicht nur dem Publikum sondern auch den Dichterfreunden fremd wird. In den Anmerkungen übers Theater, einer der theoretischen Hauptschriften des Sturm und Drang, versucht er, seinen Standort zu bestimmen: Gegen das herrschende französische Theater, gegen die Aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung setzt er die Einheit der inneren Handlung. Er möchte Charaktere und Situationen zeichnen wie sie sind, die Wirklichkeit nicht einem höheren ästhetischen Anspruch folgend idealisieren. Konsequent verfährt er in den Soldaten, an denen er vom Herbst 1774 bis zum Sommer 1775 arbeitet. Seit vier Jahren lebt er zwischen Soldaten und Offizieren. Das Stück kann er schreiben, nachdem er die Anstellung bei den Baronen von Kleist kündigt. In Straßburg erlebt er, wie einer seiner Herren das Bürgermädchen Cleophe Fibich verführt. Das Heiratsversprechen des Barons an den Vater des Mädchens formuliert er selbst und erfährt, wie leichtfertig der Adlige sich über sein Versprechen hinwegsetzt (Damm, "J. M. R. Lenz" 720).

     Lenz verliebt sich in das Mädchen und beginnt, seine Erlebnisse und Empfindungen zu verarbeiten, indem er sie niederschreibt. Cleophe Fibich wird zur Marie. In ihr entdeckt er den Drang nach Auflehnung und Selbstverwirklichung, der sich in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg äußert. Sie wird von einem Offizier zum anderen gehetzt, hetzt sich selbst in ihrer trügerischen Hoffnung auf Selbstverwirklichung und Befreiung aus der bürgerlichen Enge und endet in der Prostitution. Stolzius, der sie liebt, gibt seinen Beruf auf und wird Bediensteter des Militärs. Wie Marie wird er gehetzt und opfert sich schließlich selbst, indem er sich und Maries Verführer vergiftet. Alle Personen sind in unauflösbare Widersprüche verstrickt, deren Ursache in den Motiven ihres Handelns, doch mehr noch in den gesellschaftlichen Widersprüchen ihrer Zeit begründet sind.

     Die Offiziersszenen sind von der eigentlichen Handlung abgetrennt. Sie zeigen Verhaltensmuster der Angehörigen des Militärs in Variationen, angewendet auf die verschiedenen Hauptpersonen, auf wechselnde Umgebungen und Situationen. Die Handlung spielt an zehn verschiedenen Orten, die gegen Ende des Stückes räumlich immer weiter auseinanderliegen, während die Abstände, in denen die Orte wechseln, sich zeitlich verkürzen. In der vierten Szene verläuft die Handlung nahezu gleichzeitig an verschiedenen Orten. Atemlos folgt Szene auf Szene. Sigrid Damm nennt das


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