- 10 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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auf. Die musikalischen Großformen zerfallen. An ihre Stelle treten "Momentformen" von äußerster kompositorischer Konzentration und konnotativer Dichte.

     Andererseits deutet die für die neue Musik am Beginn des 20. Jahrhunderts charakteristische Verdichtung der Kompositionsstrukturen (Gleichzeitigkeit mehrerer Taktarten, Polytonalität, Überlagerung divergierender rhythmisch-melodischer und klangfarblicher Komposition) nicht immer und eindeutig auf Strukturen der Angst. Als Beispiele dienen die späteren Werke Anton von Weberns, die trotz höchster konnotativer Dichte und der Allgegenwart der entwickelnden Variation in ihrer Kürze und Verhaltenheit nicht die Angst sondern ihre Sublimation thematisieren.

     Als antagonistische Kraft zur formauflösenden Tendenz der Angst in der Musik begegnet uns die Raum- und Bewegungsfigur des Labyrinths. In der Untersuchung labyrinthischer Strukturen sind Psychologie, Kunst-  und Literaturwissenschaft der Musikwissenschaft voraus. Seit Gustav René Hockes Studien zum "Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur" mit dem Titel Die Welt als Labyrinth (1957) gilt das "Labyrinth" als zentrale Metapher für die subjektivistischen Strömungen und Einflüsse innerhalb der modernen Ästhetik. In der Vermessung des Labyrinths (1965) sucht Marianne Kesting aus den "differierenden künstlerischen Systeme(n) einheitliche Momente herauszukristallisieren", die eine Orientierung über die moderne Literatur und das moderne Theater erlauben (Vorwort). In neuerer Zeit stellt Manfred Schmeling Untersuchungen zum Labyrinthischen Diskurs (1987) vor. Unter dem Eindruck Hockes und Kestings erscheint Karl Heinrich Wörners Aufsatz über "Schönbergs 'Erwartung' und das Ariadne-Thema" (1970). Wörner nutzt die Labyrinthmetapher erstmals für die wirkungsgeschichtliche Interpretation des expressionistischen Musiktheaters der "Wiener Schule" und beeinflußt die musikhistorische Forschung der siebziger und achtziger Jahre. Hermann Kern verfaßt 1982 die bisher umfangreichste kunsthistorische Labyrinth-Schrift. Therapeutische Möglichkeiten des Kranichtanzes diskutiert Wulf Becker-Glauch 1990 und 1991.

     Die moderne Ästhetik findet ihr klassisches Vorbild im Labyrinth. Vom Labyrinth aus entwickeln die Künste ihre je spezifische Fähigkeit, einen Gedanken in eine sinnlich erfahrbare raum-zeitlich gegliederte Form zu überführen. Im Bilde des Labyrinths als des universalen Urkunstwerks manifestiert sich die menschliche Hoffnung auf die ewige Wiedergeburt der Künste aus der entmaterialisierten Gestalt einer reinen inneren Anschauung von Gedanken und Ideen. Aufgabe der Künste wird es zugleich, die Angst des Menschen vorm Tode zu lindern und zu mildern. Der einzelne soll mit ihrer Hilfe vor den Gedanken ans Ende wie vor ein Spiegelbild treten. Die emanzipatorische Kraft der Künste gilt der Befreiung von der lähmenden Wirkung der Todesfurcht.


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