- 9 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Die Erfahrung der Endlichkeit des eigenen Seins ist notwendig mit der Angst vor dem Tode verbunden. Die Angst vor dem Selbst und die Angst vor dem Tode sind die natürlichen Widerstände gegen alle negative Erfahrung. Als Themen moderner Kunst sind diese beiden Formen der Angst besonders lehrreiche Beispiele. Wie in jeder als "Moderne" bezeichneten Epoche beeinflussen sie auch in unserer Gegenwart Formkräfte und Formtendenzen innerhalb der verschiedenen Künste. An ihrem Beispiel werden die Bedeutung und die innere Notwendigkeit der Subjektivierung des Ausdrucks und der Individualisierung der Perspektive innerhalb der modernen Künste deutlich. Als seelische und schöpferische Voraussetzungen für den beständigen Wandel in Musik, Tanz, Bildender Kunst, Literatur und Theater trägt die Angst zugleich zur Auflösung verbindlicher und systematisch faßbarer Formkriterien bei.

     Im 20. Jahrhundert wirken innere Unruhe und seelische Gespaltenheit in Form gegensätzlicher schöpferischer und kompositorischer Impulse auf alle Künste ein. Schon innerhalb eines überschaubaren historischen Umfelds verlieren die in Bezug auf das einzelne Werk gültigen Einsichten ihre scheinbar unumschränkte Gültigkeit. In der Musik erscheint die Angst als eine besonders bewegliche und begrifflich schwer zu fassende Kategorie. Sie gehorcht dem seelischen Gesetz des unbedingten und beständigen Wandels. Sie ist das Thema unendlicher, entwickelnder Variationen. Unter dem Aspekt der Angst erweitert sich die Perspektive auf die Künste im Ganzen.

     Als ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist festzuhalten, daß es in der Musik des 20. Jahrhunderts keine Systematik äußerer Erscheinungsformen von Angst gibt. Dennoch sind in den untersuchten Werken Strukturen äußerster Verdichtung aller jeweils zur Verfügung stehenden künstlerischen Gestaltungsmittel zu erkennen. An die Stelle einer die Einzelwerke übergreifenden Systematik muß deshalb eine hermeneutische Annäherung treten, die der Komplexität und Einmaligkeit des individuellen Ausdrucks im Ästhetischen Rechnung trägt.

     Der ausschließlich werktechnischen Analyse verschließen sich die durch Musik zum Ausdruck kommenden seelischen Befindlichkeiten. Über die der Komposition zugrundeliegenden inneren Bewegungen und Bewegungsbilder geben Untersuchungen von Reihenstrukturen zwölftönig komponierter Musik ebensowenig Aufschluß wie funktionstheoretische Analysen tonal komponierter Werke. Am Beispiel der ausgewählten Werke wird jedoch deutlich, daß die für Momente der Angst charakteristische Empfindung von räumlicher Enge und Isolation ihre musikalische Entsprechung in der Konzentration auf denkbar kürzeste Zeitspannen findet. Der erlebte Augenblick tritt in den Vordergrund. Die klassischen Bewegungsbilder lösen sich in Bewegungen


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