zum
»nackten Material« und zur »semantischen Beschriftung« (Schmidt) durch
Zitate oder Stilzitate autonomer Musik, Popmusik oder anderer musikalischer
Quellen, die einen Kontext mit sich tragen. Beide Tendenzen wurden bereits in
Zusammenhang der These eingehend erläutert. So zeichnet sich die Geschichte der
Filmmusik auch durch ständige Reduzierung des musikalischen Materials aus. Pauli
bezeichnet dies als eine Entwicklung von der »symphonischen Weitschweifigkeit zur
vokabelhaften Kürze.« Die Gründe dafür, so führt Schmidt aus, mögen zum
einen in der musikalischen Entwicklungsgeschichte selbst liegen, im gewandelten
Selbstverständnis des Kinofilms sowie in der tiefgreifenden Veränderung der
Rezeptionsgewohnheiten.22
22 Hans-Christian Schmidt: »Von der Redseligkeit zur Lakonie.« Chigiana. Rassegna
annuale di studi musicologici 42 (1990) 235–236.
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Die Entwicklungsgeschichte der Musik ist in erster Linie eine des Verfalls. Auf dem
Komponisten des 20. Jahrhunderts lastet die musikalische Tradition des 19.
Jahrhunderts. Das Repertoire des 19. Jahrhunderts wird in Kompositionen unseres
Jahrhunderts lediglich als parodistisch wiederbelebt, denn ihre semantische
Dimension entzieht sich jeder aktuellen Bedeutung. Um den parodistischen Zug einer
zeitgenössischen Komposition deutlich zu machen, muß altes Material zitiert werden.
Vergangenheit und Gegenwart stoßen aufeinander. Vergangenheitsspuren haften dem
alten Material an, die Gegenwart macht sich durch Verfremdung, durch die Technik des
Zitierens und durch Montage bemerkbar. Wenn Komponisten wie Berg in ihren
Kompositionen auf Material des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, so begreifen sie
Musikgeschichte als Geschichte einer beschrifteten Musik, deren semantischer Gehalt
dem neuen Kunstwerk dient. Damit wandelt sich auch das Hörerbild, denn man setzt ein
Publikum voraus, das eine parodistische Anspielung durch zitiertes Material erkennt. Die
Entwicklung der Filmmusik läuft nach einem ähnlichen Muster. In den ersten Jahren
zitierte man autonome Musik, die jedoch lediglich Kompilation war. Sie hatte
einzig und allein den Zweck einer Hintergrundmusik ohne jede semantische
Dimension. Die Cue Sheets belegen dies: unter dem Stichwort »balladenhaft«
findet man Puccini neben Smetana, Tschaikowsky neben Mendelssohn. Die
Musik wird auf ein Stichwort reduziert, ihre semantische Dimension spielt keine
Rolle. Sie dient lediglich als eine Art »Geräuschkulisse« – »Musik, die man
nicht hört« (Arnheim und Kracauer). In den dreißiger und vierziger Jahren
entwickelt sich erstmals ein filmsinfonischer Stil. Doch finanzielle Einsparungen
zwingen Filmkomponisten zur Reduktion. Damit geht jedoch ein Wandel des
Selbstverständnisses des Kinos einher, der sich bis heute gehalten hat. Während
der Film der dreißiger und vierziger mehr ein märchenhaftes Erzählkino ist,
so wird der Film in den sechziger Jahren zu einem analytischen Medium in
psychologischer, sozialkritischer, politischer, aber auch historiographischer Hinsicht. Am
Beispiel der Filmmusik wird es deutlich. Dem Film steht ein ganzes Arsenal an
beschriftetem Material zur Verfügung, das nun durch die Gegenwart zitiert und
gefiltert wird. Was bleibt, ist vor allem der kritische Befund, der das romantische
Erzählkino der dreißiger Jahre ersetzt. Dadurch vollzieht sich in den sechziger Jahren
auch der grundlegende Wandel von Filmmusik, in diesem Zusammenhang auch
und gerade von autonomer Musik im Film. Während sie im Stummfilm reine
Kompilation ist, wird sie nun funktionstauglich. Sie verschleiert nicht, sie macht
keine Stimmung, sie wird nun auch dem Verstand des Rezipienten
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