- 99 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zum »nackten Material« und zur »semantischen Beschriftung« (Schmidt) durch Zitate oder Stilzitate autonomer Musik, Popmusik oder anderer musikalischer Quellen, die einen Kontext mit sich tragen. Beide Tendenzen wurden bereits in Zusammenhang der These eingehend erläutert. So zeichnet sich die Geschichte der Filmmusik auch durch ständige Reduzierung des musikalischen Materials aus. Pauli bezeichnet dies als eine Entwicklung von der »symphonischen Weitschweifigkeit zur vokabelhaften Kürze.« Die Gründe dafür, so führt Schmidt aus, mögen zum einen in der musikalischen Entwicklungsgeschichte selbst liegen, im gewandelten Selbstverständnis des Kinofilms sowie in der tiefgreifenden Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten.22
22 Hans-Christian Schmidt: »Von der Redseligkeit zur Lakonie.« Chigiana. Rassegna annuale di studi musicologici 42 (1990) 235–236.
Die Entwicklungsgeschichte der Musik ist in erster Linie eine des Verfalls. Auf dem Komponisten des 20. Jahrhunderts lastet die musikalische Tradition des 19. Jahrhunderts. Das Repertoire des 19. Jahrhunderts wird in Kompositionen unseres Jahrhunderts lediglich als parodistisch wiederbelebt, denn ihre semantische Dimension entzieht sich jeder aktuellen Bedeutung. Um den parodistischen Zug einer zeitgenössischen Komposition deutlich zu machen, muß altes Material zitiert werden. Vergangenheit und Gegenwart stoßen aufeinander. Vergangenheitsspuren haften dem alten Material an, die Gegenwart macht sich durch Verfremdung, durch die Technik des Zitierens und durch Montage bemerkbar. Wenn Komponisten wie Berg in ihren Kompositionen auf Material des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, so begreifen sie Musikgeschichte als Geschichte einer beschrifteten Musik, deren semantischer Gehalt dem neuen Kunstwerk dient. Damit wandelt sich auch das Hörerbild, denn man setzt ein Publikum voraus, das eine parodistische Anspielung durch zitiertes Material erkennt. Die Entwicklung der Filmmusik läuft nach einem ähnlichen Muster. In den ersten Jahren zitierte man autonome Musik, die jedoch lediglich Kompilation war. Sie hatte einzig und allein den Zweck einer Hintergrundmusik ohne jede semantische Dimension. Die Cue Sheets belegen dies: unter dem Stichwort »balladenhaft« findet man Puccini neben Smetana, Tschaikowsky neben Mendelssohn. Die Musik wird auf ein Stichwort reduziert, ihre semantische Dimension spielt keine Rolle. Sie dient lediglich als eine Art »Geräuschkulisse« – »Musik, die man nicht hört« (Arnheim und Kracauer). In den dreißiger und vierziger Jahren entwickelt sich erstmals ein filmsinfonischer Stil. Doch finanzielle Einsparungen zwingen Filmkomponisten zur Reduktion. Damit geht jedoch ein Wandel des Selbstverständnisses des Kinos einher, der sich bis heute gehalten hat. Während der Film der dreißiger und vierziger mehr ein märchenhaftes Erzählkino ist, so wird der Film in den sechziger Jahren zu einem analytischen Medium in psychologischer, sozialkritischer, politischer, aber auch historiographischer Hinsicht. Am Beispiel der Filmmusik wird es deutlich. Dem Film steht ein ganzes Arsenal an beschriftetem Material zur Verfügung, das nun durch die Gegenwart zitiert und gefiltert wird. Was bleibt, ist vor allem der kritische Befund, der das romantische Erzählkino der dreißiger Jahre ersetzt. Dadurch vollzieht sich in den sechziger Jahren auch der grundlegende Wandel von Filmmusik, in diesem Zusammenhang auch und gerade von autonomer Musik im Film. Während sie im Stummfilm reine Kompilation ist, wird sie nun funktionstauglich. Sie verschleiert nicht, sie macht keine Stimmung, sie wird nun auch dem Verstand des Rezipienten

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