- 95 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Vernichtungsprozeß, sondern das Café wird dadurch, daß bestimmte Musikstücke in seinem Repertoire Aufnahme finden, Gradmesser ihrer geistigen und seelischen Qualitäten.«10
10 Kurt Westphal: »Wird klassische Musik durch ihre Aufführung in Café und Kino entweiht?« Allgemeine Musikzeitung 53 (1926) 886.

Einen anschaulichen Eindruck im Umgang mit den Cue Sheets liefert hier besonders das Allgemeine Handbuch der Film-Musik von Erdmann und Becce. Auch die bereits zitierte Monographie von Pauli ist eines der Standardwerke zur Musik des Stummfilms. Eine anschauliche Analyse originaler Filmkompositionen liefert die Monographie von Rainer Fabich.11

11 Rainer Fabich: Musik für den Stummfilm. Analysierende Beschreibung originaler Filmkompositionen. Frankfurt am Main/Berlin u.a. 1993.
Eine der ausführlichsten Abhandlungen zur Musik des Stummfilms ist jedoch zweifellos die Dissertation von Berg.12
12 Berg, Charles Merell: An Investigation of the motives for and realization of music to accompany the American Silent Film, 1896–1927. New York 1976.

Neben der Begleitung durch die gängigen Cue Sheets waren die zwanziger Jahre der Filmbranche auch stark geprägt vom Experiment. Komponisten autonomer Musik wie Hindemith, Dessau, Honegger, Satie oder Schostakowitsch und natürlich Hanns Eisler begannen, für das neue Medium Film Musiken zu schreiben. Einen frühen Versuch hatte bereits Camille Saint-Saens mit seiner Musik zu Die Ermordung des Herzogs von Guise im Jahre 1908 geleistet. Der Hang zum Experiment war in den zwanziger Jahren nicht zuletzt durch den Zerfall eines allumfassenden Kunstverständnisses bedingt, die eine allgemeine Orientierungslosigkeit zur Folge hatte.13

13 Vgl. Kap. 1.5.2, »Filmmusik als Film-Musik«.
So komponierte Eric Satie beispielsweise die Musik zu René Clairs Entr’acte (1924), ein Dokument für filmisch realisierten Dada. Doch auch hier wurden kritische Stimmen laut. Arnheim kritisiert zu Anfang der dreißiger Jahre die selbstbewußt auftrumpfende Filmmusik der späten Stummfilmzeit: »In den letzten Jahren des stummen Films hatte man angefangen, eine Art Kultus mit ihr zu treiben. Die Dirigenten der großen Kinotheater waren ebenso berühmte Leute wie die Regisseure, deren Film sie »illustrierten«, und die Zeitungen bestellten eigne [sic] Filmmusikkritiker, die mit ernster Miene begutachteten, ob die Begleitung passend oder nicht und welcher Qualität die verwendete Musik gewesen sei. Man ging dazu über, anstelle der aus hundert Musikstücken zusammengestückelten Begleitung Originalmusiken zu verwenden; [...] und an den Konservatorien und Hochschulen wurden eigne [sic] Klassen für Filmmusik gegründet. Eigentlich unnützerweise, denn die Filmmusik war immer nur dann gut, wenn man sie nicht bemerkte [...].«14
14 Arnheim 1932, S. 304–305.

Die Jahre zwischen 1927 und etwa 1930 waren der große Umbruch vom Stummfilm zum Tonfilm. Für die Orchester, Dirigenten oder Komponisten von Filmmusik bedeutete die Einführung des Tonfilms Arbeitslosigkeit, denn die neuen Tonfilme waren in erster Linie zunächst einmal reine »talkies« – Sprechfilme, die weitgehend auf Musik verzichteten. Die Produzenten setzten ganz auf die Faszination der hörbaren Sprache, was bald darauf den Widerstand von Stummfilmstars wie Charly Chaplin oder Filmmusikern hervorrief. Den berühmtesten Einwand gegen den Tonfilm verfaßten die sowjetischen Regisseure Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow


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