Obwohl das Publikum eher den ärmeren Schichten zugeordnet werden
konnte, entsprach das Repertoire des Pianisten eher dem des Großbürgertums.
Manvell und Huntley zitieren hierzu den britischen Filmhistoriker Rachael
Low:
»With the pianist playing from 2 to 11 p.m. for his 25s. or 30s. a week,
and frequently doing odd jobs in the mornings, it was hardly surprising if an
occasional comic rattled through to the sound of Schumann’s Träumerei, or
scenes of winter sports to Mendelssohn’s Spring Song.«6
6 Rachael Low 1914–16, zit. n. Roger Manvell/John Huntley: The Technique of Film Music.
New York 1975, S. 22.
|
Pauli beurteilt die Tatsache, daß bereits im Jahrmarktkino klassische und romantische
Musik zitiert wurde, als eine natürliche Folge der nachlässigen Filmproduktionen. Da die
Kinopianisten aufgrund der häufig wechselnden Programme keine Zeit hatten, sich
entsprechend vorzubereiten, mußten sie auf Material zurückgreifen, das sie seit ihrer
Kindheit beherrschten, nämlich vornehmlich die Klaviermusik des 19. Jahrhunderts,
hauptsächlich jene Linie, die von Mendelssohns »Lieder ohne Worte« über Schumann
und Grieg zur Salonmusik führte. Im Unterschied zu Sonatensätzen im Ausdruck eher
einheitlich, ließen sich die Stücke darüber hinaus nach Belieben kürzen oder
verlängern, je nachdem wie es die Länge des Films verlangte. Der Gebrauch
autonomer Zitate folgte also weniger filmästhetischen Prinzipien als rein praktischen
Gründen.
Das Jahr 1909 brachte eine Wende: mit dem Zusammenschluß der amerikanischen
Filmbranche zum Edison-Trust »Motion Picture Patents Company« wurde der Film
umgepolt von den ärmeren Bevölkerungsschichten auf ein verlorengegangenes und zudem
finanzkräftiges bürgerliches Publikum. Das Image des Films als einer billigen
Massenunterhaltung sollte aufpoliert werden. Die Jahre zwischen 1910 und 1914 wurden
zu einer goldenen Epoche für Filmunternehmer. Charismatische Gestalten wie die
Gebrüder Warner (Warner Bros.) oder Carl Laemmle (Universal) sind bereit, riesige
Beträge an Schauspieler »mit hohem Marktwert« zu zahlen. In Kalifornien
wird eine winzige Ortschaft zum Synonym für erfolgreiches Kino schlechthin:
Hollywood. Die Filmpioniere kleinerer Produktionsfirmen fliehen aus New York, um
Edisons Forderungen nach Lizenzgebühren für seine Filmpatente zu entgehen.
Regisseure wie David Wark Griffith oder Charles Chaplin versprechen nun bessere
Produktionsqualität und den Ausbau musikalischer Standards. Sie stehen für Hollywoods
Entwicklung zwischen Kunst und Kommerz. Die Filme wurden kontrastreicher,
neuerbaute prunkvolle Kinopaläste sollten das bürgerliche Publikum anlocken.
Die Musik wurde der Willkür des improvisierenden Pianisten entzogen, indem
sie fortan mit dem Film mitgeliefert wurde, d.h. es lag zu jedem Film eine
ausgearbeitete Begleitmusik vor, die auf der Bühne live zum Film gespielt wurde. Dies
geschah durch sogenannte »Cue Sheets«, Listen, die inhaltliche Stichwörter und
die ihnen zugeordneten Musikstücke enthielten, meist klassisch-romantisches
Repertoire.
Daneben erschienen Handbücher und sogenannte »Kinotheken« zwischen 1910 und
1927, in denen Genrestücke für Klavier ebenfalls auf Stichwörter hin geordnet für die
Stummfilmbegleitung zusammengefaßt waren, beispielsweise Zamecniks »Sam Fox
Moving Picture Music« (1913), Becces »Kinothek« (1919) oder Ernö
|