- 93 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (92)Nächste Seite (94) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Obwohl das Publikum eher den ärmeren Schichten zugeordnet werden konnte, entsprach das Repertoire des Pianisten eher dem des Großbürgertums. Manvell und Huntley zitieren hierzu den britischen Filmhistoriker Rachael Low: »With the pianist playing from 2 to 11 p.m. for his 25s. or 30s. a week, and frequently doing odd jobs in the mornings, it was hardly surprising if an occasional comic rattled through to the sound of Schumann’s Träumerei, or scenes of winter sports to Mendelssohn’s Spring Song6
6 Rachael Low 1914–16, zit. n. Roger Manvell/John Huntley: The Technique of Film Music. New York 1975, S. 22.

Pauli beurteilt die Tatsache, daß bereits im Jahrmarktkino klassische und romantische Musik zitiert wurde, als eine natürliche Folge der nachlässigen Filmproduktionen. Da die Kinopianisten aufgrund der häufig wechselnden Programme keine Zeit hatten, sich entsprechend vorzubereiten, mußten sie auf Material zurückgreifen, das sie seit ihrer Kindheit beherrschten, nämlich vornehmlich die Klaviermusik des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich jene Linie, die von Mendelssohns »Lieder ohne Worte« über Schumann und Grieg zur Salonmusik führte. Im Unterschied zu Sonatensätzen im Ausdruck eher einheitlich, ließen sich die Stücke darüber hinaus nach Belieben kürzen oder verlängern, je nachdem wie es die Länge des Films verlangte. Der Gebrauch autonomer Zitate folgte also weniger filmästhetischen Prinzipien als rein praktischen Gründen.

Das Jahr 1909 brachte eine Wende: mit dem Zusammenschluß der amerikanischen Filmbranche zum Edison-Trust »Motion Picture Patents Company« wurde der Film umgepolt von den ärmeren Bevölkerungsschichten auf ein verlorengegangenes und zudem finanzkräftiges bürgerliches Publikum. Das Image des Films als einer billigen Massenunterhaltung sollte aufpoliert werden. Die Jahre zwischen 1910 und 1914 wurden zu einer goldenen Epoche für Filmunternehmer. Charismatische Gestalten wie die Gebrüder Warner (Warner Bros.) oder Carl Laemmle (Universal) sind bereit, riesige Beträge an Schauspieler »mit hohem Marktwert« zu zahlen. In Kalifornien wird eine winzige Ortschaft zum Synonym für erfolgreiches Kino schlechthin: Hollywood. Die Filmpioniere kleinerer Produktionsfirmen fliehen aus New York, um Edisons Forderungen nach Lizenzgebühren für seine Filmpatente zu entgehen. Regisseure wie David Wark Griffith oder Charles Chaplin versprechen nun bessere Produktionsqualität und den Ausbau musikalischer Standards. Sie stehen für Hollywoods Entwicklung zwischen Kunst und Kommerz. Die Filme wurden kontrastreicher, neuerbaute prunkvolle Kinopaläste sollten das bürgerliche Publikum anlocken. Die Musik wurde der Willkür des improvisierenden Pianisten entzogen, indem sie fortan mit dem Film mitgeliefert wurde, d.h. es lag zu jedem Film eine ausgearbeitete Begleitmusik vor, die auf der Bühne live zum Film gespielt wurde. Dies geschah durch sogenannte »Cue Sheets«, Listen, die inhaltliche Stichwörter und die ihnen zugeordneten Musikstücke enthielten, meist klassisch-romantisches Repertoire.

Daneben erschienen Handbücher und sogenannte »Kinotheken« zwischen 1910 und 1927, in denen Genrestücke für Klavier ebenfalls auf Stichwörter hin geordnet für die Stummfilmbegleitung zusammengefaßt waren, beispielsweise Zamecniks »Sam Fox Moving Picture Music« (1913), Becces »Kinothek« (1919) oder Ernö


Erste Seite (i) Vorherige Seite (92)Nächste Seite (94) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 93 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik