- 92 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Ein auch für die Filmmusik weitaus bedeutenderes Datum, das den Startschuß für die Geschichte des Films markiert, ist der 28. Dezember 1895, als die Brüder Lumière im Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris ihre kurzen dokumentarischen Streifen wie die Ankunft eines Zuges oder Babys Frühstück auf ihrem »Cinématographe« präsentierten. Da Musik als Bestandteil theatralischer Vorführungen stets in Aktion trat, wo es galt, die Sinneslust eines vorwiegend auf optische Sensationen fixierten Publikums zu befriedigen, soll bereits ein Pianist jene Lumière-Vorstellungen begleitet haben. Das Repertoire, so wird oftmals vermutet, bestand aus bekannten Schlagern der Zeit. Doch wird unter Wissenschaftlern nicht nur das theatralische Ambiente jener Vorstellungen als Grund für eine solch frühe Verbindung von Musik und Film herangezogen. Hier herrscht nach wie vor Uneinigkeit: Kurt London ist überzeugt, daß das Klavier den Lärm der Projektoren übertönen sollte.3
3 Kurt London: Film Music. London 1970, [Repr.] Salem/New Hampshire 1992, S. 27–28.
Pauli hält dagegen, daß der Lumièrsche Cinématographe fast lautlos betrieben werden konnte, räumt aber immerhin ein, daß ein Reporter der New York Times im Bericht über die amerikanische Premiere von Edisons »Vitascope« das »Gesumme und Getöse« des Projektors erwähnt.4
4 Pauli 1981b, S. 40–41.
Eisler hingegen meint, daß der gespenstische Eindruck, den der Kinematograph auf den filmisch unerfahrenen Zuschauer machen mußte, durch Musik relativiert werden konnte – Kinomusik habe den Gestus eines Kindes, das im Dunkeln vor sich hinsingt. Zum anderen, so Eisler, sollte die Musik die fehlenden Realgeräusche und die Sprache zur Filmhandlung ersetzen. Das Publikum dieser Vorstellungen war eher kleinbürgerlich, das sich von den Brüdern Lumière »die große Welt« zeigen ließ. Daher ist das Kino und die Filmmusik zunächst mit einer Jahrmarktattraktion gleichzusetzen, das ein nach Sensationen gierendes Publikum befriedigt. Doch für eine kurze Zeit eroberte sich der Film die besseren Etagen der Unterhaltungsbranche. In New York beispielsweise wurde es ab 1896 bald zur Gewohnheit, Filmvorführungen in das Programm von Varietétheatern zu integrieren. Über das musikalische Repertoire ist bis heute nichts Genaues bekannt, auch hier nimmt man an, daß es sich um die im Varietétheater übliche Musikbegleitung handelte.

Doch war die Sensation solcher Filmvorführungen bald abgeschliffen. Um 1900 wanderte das Kino zurück in die Provinzen. Die Linie einer billigen Vergnügungsindustrie blieb lebendig, die durch die Kinetoskop-Salons begründet worden war. Die Zeit zwischen 1900 und 1907/08 bezeichnet Toeplitz als die Zeit des »Jahrmarktkinos«.5

5 Schmidt 1982b, S. 11.

Es entstanden sogenannte »Penny Arcades« – Lokale, in denen ein vorwiegend armes Publikum Filme auf Projektionen anschauen konnte. Der Film wurde zum, wie Pauli sagt, »proletarischen Feierabendvergnügen.« Von einer regelrechten Filmmusikpraxis konnte jedoch auch hier noch nicht die Rede sein. Diese beschränkte sich lediglich auf Geräusche wie Trommelwirbel, um das Publikum anzulocken. Vom legendären »Mann am Klavier«, der für die Stummfilmzeit als charakteristisch gilt, kann man erst ab 1905 mit der Einführung der sogenannten Nickelodeons sprechen: Ladenlokale, die mit einem Klavier ausgestattet wurden und in denen die Besucher der »Penny Arcades« zum Preis von einem Nickel Filme vorgeführt bekamen.


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