- 88 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zu verallgemeinern, entbehrt jedoch jeder Grundlage, denn die Autorin setzt eine gezielte Wertung des Kino- bzw. des Konzertpublikums voraus, wobei der Kinobesucher als »musikalisch unwissend« eingestuft wird.40
40 Motte-Haber/Emons 1980, S. 206.
Dies verrät eine Einstellung gegenüber dem Kino, die eher den Kindertagen dieses Mediums zuzuordnen ist, in denen das Kino mehr den »unteren Schichten« zugeordnet wurde. Erst in den dreißiger Jahren wurde es »salonfähig« und damit für die bürgerlichen Schichten zugänglich. Im Jahre 1980 dürften sich Kino- und Konzertpublikum mittlerweile vermischt haben.

Falls der Zuschauer es tatsächlich nicht erkennt, büßt es seine dramaturgische Funktion vollkommen ein. De la Motte-Haber setzt es in einem solchen Fall mit der stilistischen Anleihe gleich, die sie ihrerseits auf ein musikalisches Klischee herabsetzt. Schneider erklärt das Klischee in der Musik mit dem Semantisierungsprozeß von Film durch Musik. Stereotypen, auf denen die Encodierung von Zeichen, hier der Musik, beruht, sind einem ständigen Verschleiß ausgesetzt. Durch jede Anwendung eines Stereotyps in einem neuen Kontext ändert sich das Stereotyp selbst. Wird die lebendige Bedeutung eines Zeichens, in diesem Falle der Musik, auf eine Formel verengt, entsteht ein Klischee, »tote« Zeichen, die von Sender und Empfänger stillschweigend vereinbart werden, bevor überhaupt auf das konkrete Kunstwerk eingegangen wird.41

41 Schneider 1986, S. 83.
Motte-Haber argumentiert hier mit Tschaikowskys Hamlet-Ouvertüre zu dem Film Überflüssige Menschen (1926), die Schmidt-Boelcke einsetzte. Viele Orchestermitglieder spielten diese zum ersten Mal, der Zuschauer konnte und sollte sie nicht erkennen. Was zählte, ist ein genereller Charakter, das Majestätische oder das Russische. Das Zitat wird – zumindest für den Zuschauer – zum bloßen Anklang, als solcher zum Klischee: »Denn sofern die Musik im Film illustriert oder indiziert, ist sie auch zum groben Klischee gezwungen, weil sie nur Informationen generiert, indem sie an Annahmen und Meinungen auf seiten des Zuschauers anknüpft, durch die wiederum ein in seiner Bedeutung unvollständiges Bild präzisiert und ergänzt werden kann. Daß solche semantischen Übertragungen grundsätzlich möglich sind, zeigen Versuche, in denen die Darbietung von Musik oder die Darbietung von Filmmaterial verbalen Aussagen Eindeutigkeit lieh. [...] Sie [Filmmusik] spiegelt die Stereotype und die Standards wider, die im Kopf des Rezipienten existieren und daher mühelos identifiziert werden können.«42
42 Motte-Haber/Emons 1980, S. 204.

Unklar bleibt hier, warum Motte-Haber die Gefahr der Klischeehaftigkeit nur auf das unerkannte Zitat beschränkt. Die Gefahr besteht auch, wenn ein musikalisch bekanntes Zitat zu oft herangezogen wird aufgrund seiner leichten Identifizierbarkeit. Durch vielfache Abnutzung in jedem Film kann die Assoziation des Zitats ebenso auf ein bloßes Klischee reduziert werden. Diese Tatsache veranlaßten auch Adorno/Eisler, Zitate autonomer Musik, die sie als »Stock Music« [»Vorratsmusik«] bezeichneten, zu den »schlechten Gewohnheiten« des Films zu zählen: »Mondscheinnacht – der erste Satz der Mondscheinsonate, ganz sinnwidrig instrumentiert, indem die bei Beethoven im Klavier nur eben angedeutete Melodie von den Streichern aufdringlich und fett unterstrichen wird. Bei


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