- 87 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Schneideraum kommt und zum Bild improvisiert, bietet das Archivar lediglich Musik an, die dem Film fremd bleibt.36
36 Schneider 1986, S. 235.
In diesem Zusammenhang kritisiert Schneider die formale Geschlossenheit des Zitats. Da die Ausformung von Musikstücken im Film oft fragmentarisch unvollkommen ist, integrieren sich geschlossene Werke wie »Fremdkörper« weitaus schlechter in den Handlungsverlauf, sie würden eher zu Vor- und Nachspann passen. Als solche sind sie eher autonom »lebensfähig«. Eine Wandlung von Autonomie zu Funktionalität ist für ihn hier fraglich.

De la Motte-Haber stellt den Begriff der Assoziation in Frage. Damit sei zwar eine Beschreibung der Filmhandlung durch das Zitat gewonnen, nicht aber eine Erklärung. Das Wissen, das durch das Erklingen des Zitats abgerufen wird, muß irgendwann einmal erlernt worden sein. Der bloße Abruf dieses Wissens reiche jedoch nur zu einer Deskription. Erklärt würde erst etwas durch das Zitat, wenn Regeln zu einer Verknüpfung von Inhalten ausgelöst durch Musik bekannt wären. Das musikalische Gedächtnis sei aber dahingehend noch zu wenig untersucht. In der Musik gebe es keinen zu abstrahierenden Sinn. Eine Symbolfunktion erkennen zu wollen, sei schlichter »Ignorabismus«. An dieser Stelle ist de la Motte-Habers Kritik verwirrend und widersprüchlich. Zum einen gesteht sie dem Zitat als funktionaler Musik durchaus ein Aussage zu: »Anklang und Zitat bereichern die tönende Kulisse um die konkrete Aussage«,37

37 Motte-Haber/Emons 1980, S. 210.
zum anderen sieht sie das Zitat aus autonomer Sicht und spricht ihm eine eigene Aussage ab. In diesem Falle reduziert sie seinen Wert auf einen ästhetischen Reiz, dem »Aha-Erlebnis« des Zuschauers, der das Zitat erkannt hat und ihm die Rolle des überlegenen Kommentators schenkt, da er über mehr Wissen und Informationen verfügt als die Handelnden im Bild. In diesem Falle könnte man jedoch nicht mehr von einem auf die Dramaturgie des Films gerichteten Einsatz von autonomer Musik sprechen, sondern von einer Funktion, die auf bloße Wirkungsästhetik reduziert wird. Insofern stellt die Autorin den Standard autonomer Musik in Frage. Das Zitat im Film »macht den ästhetischen Anspruch, der sich mit dem Zitat verbindet, fragwürdig; er kann leicht zu einer Lehre vom Erbe degenerieren, die hochhält, was Kunst war, und dem mißtraut, was sie sein wird.«38
38 Motte-Haber/Emons 1980, S. 210; vgl. auch: Motte-Haber 1980, S. 14.

Hauptkritikpunkt am Zitat ist jedoch das Erkennen des Zitats seitens des Zuschauers. Da Zitate nur so viele Informationen hergeben, wie das Bewußtsein des Rezipienten birgt, sind sie auf sein gelerntes Wissen bezogen. Damit reproduzieren sie Historizität, sie sind auf Bildungstraditionen verwiesen. Lissa: »Das Zitat wird ja erst in dem Augenblick zum Zitat, in dem es der Filmzuschauer als solches erkennt. Nicht erkannt, funktioniert es als normale Filmmusik in dieser oder jener Verbindung mit dem Bild.«39

39 Lissa 1965, S. 312.
Wissen als Voraussetzung für eine dramaturgische Eingliederung des Zitats seitens des Zuschauers ist besonders für Kloppenburg und Motte-Haber ein Kritikpunkt. Letztere meint, jenes Wissen dürfte beim Kinobesucher kleiner sein als beim Konzertbesucher, so daß der Regisseur oder Komponist die musikalischen Kenntnisse des Zuschauers manches Mal weit überschätzen dürfte. Zwar ist dieser Vorwurf in Einzelfällen nicht von der Hand zu weisen, dies

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