- 89 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Gewitter – die Tellouvertüre, bei Hochzeiten – der Brautmarsch aus Lohengrin oder der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn. Diese Praxis, die übrigens abnimmt und nur noch in den billigen Filmen vorwaltet, hat ihre Entsprechung in der Beliebtheit von trade-mark-Stücken in der Kunstmusik [...]. Die Verwendung von Titelwarenzeichen ist ein barbarischer Unfug.«43
43 Adorno/Eisler 1976, S. 24–25.

Hier bleibt allerdings anzumerken, daß Adorno und Eisler in den vierziger Jahren die Stummfilmzeit und frühe Ära des Tonfilms vor Augen hatten, in denen Kinokapellmeister in der Regel immer zu bereits vorhandenen Kompositionen griffen, um den Film zu begleiten, was natürlich eine gewisse Abnutzung besonders populärer Werke zur Folge hatte, die eine beabsichtigte starke Wirkung vereitelte. Schlecht, so Adorno, sei hier die Standardisierung dessen, was mit dem Anspruch auftritt, individuell zu sein als individueller »Verkleidung des Schemas.« Dadurch, daß der Rückgriff auf autonomes Material in den vierziger Jahren nach Adorno immer noch als »modern« galt, entsteht für ihn ein Mißverhältnis zwischen Mittel und Wirkung. Die Filmindustrie erweist sich hier vielmehr als »Vollstreckungsinstanz«: die Werke und Techniken, die im Bereich der Kunstmusik längst abgeschliffen sind, werden im Film nur noch zu formelhaften Klischees, die keine individuelle Aussage bergen, als solche erachten Adorno/Eisler sie als für den Film unangemessen.

Abschließend sei noch kurz die Frage erläutert, was autonome Musik verliert und gewinnt, wenn sie im Film zitiert wird. Zum einen, so Lissa, verändert sie ihr Verhältnis zur Zeit. Sie verliert ihre kontinuierliche Entwicklung und ihre Geschlossenheit, da sie sich den Gesetzen der visuellen Schicht unterwirft. Darüber hinaus verliert sie die »Mehrdeutigkeit ihres Ausdrucks«, wenn sie in der konkreten Situation des Bildes auftritt. Unklar ist hier, was Lissa unter der »Mehrdeutigkeit« des autonomen Werkes zitiert. Dem steht ebenso die vorangestellte These gegenüber, die besagt, daß das autonome Werk nicht seine Bedeutung verliert, vielmehr transportiert es diese in den Film. Im Hinblick auf die Perzeption folgert Lissa, daß autonome Musik im Film nicht mehr länger im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sie wird durch die Dramaturgie des Films an die Peripherie gedrängt. Einen Vergleich der Rezeption von autonomer Musik und Filmmusik deklariert Schmidt hingegen von vornherein als unmöglich, denn »der Versuch, die Rezeption von Filmmusik abzugrenzen von der Rezeption autonom intendierter Musik, landet in der Regel beim Vergleich von Äpfeln und Birnen: Musik, deren materiale Qualität so und nicht anders, deren dramaturgische Integration in den filmischen Kontext ebenfalls so und nicht anders beschaffen ist, meint optisch den Widerspruch zu jener anderen, welche den Dialog, den denkenden Nachvollzug, die Analyse, die Kontemplation herausfordert.«44

44 Schmidt 1982a, S. 164.

Da sich beim Vergleich der Rezeption von autonomer Musik und Filmmusik Werk- und Wirkungsqualität gegenüberstehen, sei die Frage bei beiden Kategorien genreimmanent zu stellen, d.h. es sei in beiden Fällen danach zu fragen, wie sich das Filmerleben unter dem Einfluß von Musik strukturiert. In diesem Falle sei autonome Musik mit den Rezeptionsgewohnheiten von Filmmusik gleichzusetzen, da nicht die Werkästhetik, also der Kunstcharakter von Musik interessiere, sondern deren funktionale und wirkungsästhetischen Eigenschaften.


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