- 86 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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dramaturgisch geplanter semantischer Beschriftung reden, da es sich in diesem Falle nicht mehr um Funktionalität, sondern um Wirkung von Filmmusik handelt, die vom Zuschauer ausgeht - als solche kann die Semantisierung des Bildes durch den Zuschauer völlig unterschiedlich ausfallen. Desweiteren sind Zitate, die historisch mit der erzählten Zeit des Films übereinstimmen, beispielsweise dem Film Peter I. mit Zitaten von Telemann und Kirnberger, Requisiten des Authentischen, als solche Widerspiegelung von Kulturtendenzen. Bei Zitaten, die durch einen Text unterlegt sind, entsteht nicht nur eine Assoziationsebene durch die Entstehung des Werkes, sondern bereits durch den gesungenen Text wie der Schlußchor aus Beethovens Neunter, aber auch als Ausschnitt einer Oper, der z.B. als selbständiger Kommentar in die Handlung einfließen oder gewisse handelnde Personen charakterisieren kann. Hauptcharakteristikum bei allen geschilderten Funktionen ist jedoch, daß das Zitat im Idealfall eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem Ablauf des Films erlangt. Es steht als dramaturgisches Element am Rande und kann sowohl einzelne Szenen als auch die gesamte Dramaturgie des Films bereichern.34
34 Lissa 1965, S. 309–311.

Doch Zitate autonomer Musik werden nur allzuoft aus einem sehr kritischen Blickwinkel betrachtet. So sprechen besonders Musikkenner gerne von einem »Mißbrauch« klassischer Musik. Nicht selten werden klassische Werke nach ihrem Gebrauch im Film zu Plattenknüllern, die unter dem Titel des Films angeboten werden. So wie de la Motte-Haber ein merkantiles Interesse der Kulturindustrie bei Rock und Pop als Filmmusik vermutet, so läßt sich dies auch im Falle der autonomen Musik in vielen Fällen gewiß nicht bestreiten. Filmkritiker werfen den Regisseuren und Filmkomponisten entsprechender Filme darüber hinaus drastische Sparmaßnahmen vor, indem sie auf eine Originalkomposition mit teurer Produktion verzichten und die weitaus billigere Schallplatte oder CD bevorzugen. Was der Produzent hier beispielsweise an GEMA-Gebühren zu leisten hat, ist natürlich im Vergleich zu der Verwirklichung einer Originalkomposition verschwindend gering.

Aber nicht nur aus den finanziellen Vorteilen heraus entsteht eifrige Kritik, sondern die Funktionsweise des Zitats selbst gibt vielerlei Anlaß zur Bemängelung. Zwar bezeichnet Kloppenburg Viscontis Wahl von Mahler als »genial«, doch schränkt er gleichermaßen ein, daß Zitate ausschließlich in sogenannten »Kultfilmen«, die in ihrer Wirkung »überhöht« sind, funktionieren und eher die Ausnahme bilden. In allen anderen Filmen versage eine solche Musik, da sie – unabhängig vom Film komponiert – sämtliche Möglichkeiten und Erfordernisse einer »guten Filmmusik« nicht erfüllt, d.h. sie ist, so Kloppenburg, nicht in der Lage, mit ihren Mitteln differenziert in die Filmhandlung unter dramaturgischen Gesichtspunkten einzugreifen. Unter den »Mitteln« versteht er ein »bestimmtes musikalisches Material«. Sowohl damit als auch mit ihrer Fixiertheit auf ein Insider-Publikum könne sie dem Grundanspruch des Film nicht gerecht werden, nämlich Realität zu repräsentieren.35

35 Kloppenburg 1983, S. 209.
Der Vorwurf, Zitate können dadurch, daß sie unabhängig vom Film entstanden sind, nicht genügend auf diesen einwirken, wird auch von praktischer Seite oft erhoben. Beispielsweise vermeidet der Regisseur Haro Senft prinzipiell die Verwendung von Zitaten, da dem Film hier ein »präexistentes rhythmisches Korsett« aufgezwängt wird. Anders als der Komponist, der mit einer Gitarre in den

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