- 85 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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sie jedoch durch ihre fest umrissene Bedeutung Worte ersetzen können, sogar präziser sind als Leitmotive, können sie nicht nur beschreiben, sondern das Bild ergänzen durch ihre Assoziationen, die das Filmbild nicht widerspiegelt und somit ergänzende Informationen für den Zuschauer bedeuten. Hier können die Zusatzinformationen, die nur von dem Zitat ausgehen, das Bild durchaus kommentieren. Als emotionaler Appell kann das Zitat zur Parodie durch Verfremdung werden, indem die Botschaft des Zitat in parodischem Gegensatz zum Bild oder aber zur gesamten Dramaturgie des Films steht. Das Erkennen einer solchen Verfremdung kann zuweilen den Eindruck von Komik, Ironie bis hin zur Groteske beim Zuschauer führen. Lissa bezeichnet diese Funktion schlichtweg als »Kontrast«. Die Steigerung dieser Verfremdung ist die gezielt gesetzte Pointe durch das Zitat, wenn es offensichtlich vollkommen verquer zu seiner Bedeutung im Film auftritt.32
32 Motte-Haber/Emons 1980, S. 208.
Schmidt nennt in seiner These das Beispiel »Les Préludes« von Liszt, die im Dritten Reich mißbraucht werden, um Rundfunkmeldungen von der Ostfront pompös einzuleiten. Als solche sind sie bereits semantisch »belastet«. In dem in der besetzten Tschechoslowakei spielenden Film Liebe nach Fahrplan aus dem Jahr 1966 verwendet der Komponist Jiri Sust eben dieses semantisch neu besetzte Zitat als Nazi-Emblem. Zwar wird das Zitat durch die Dramaturgie persifliert und dadurch eine gewisse Komik erzeugt, jedoch enthüllt es dem Zuschauer auch eine Ambivalenz, weil die Musik ihre semantische Besetzung als Nazi-Attitüde behält. Dadurch wirkt sie wie eine Metapher für die nachfolgende Ermordung des Protagonisten, wodurch die Nähe der Komik zur Tragik deutlich wird. Das Filmbeispiel verdeutlicht auch, daß eine semantische Neubesetzung des Zitats in einem Film – wie das Werk Liszts als Nazi-Attitüde – in seiner weiteren Rezeptionsgeschichte zur Groteske werden kann.

Bis zu diesem Punkt stimmen Lissas und de la Motte-Habers Ausführungen überein. Darüber hinaus geht Lissa an einzelnen Filmszenen wiederum sehr ins Detail. Weitere Funktionen des Zitats sieht sie zusammengefaßt in der Unterstreichung eines Milieus, sofern das Zitat eher »banal« ist; das Zitat kann darüber hinaus nur den Filmhelden charakterisieren. In diesem Fall spricht Gerhold auch von einer psychologischen Charakterisierung der Personen durch autonome Musik, da »die in Melodie, Rhythmus und Klangbild angelegten Wirkungen ein eigenes Psychogramm, Psychotöne von Raum, Landschaft und Personen erzeugen.«33

33 Hans Gerhold: »Kreischende Glissandi zum schrillsten Mord. Musik und Film zwischen Bombastsound und Psychoklängen.« Westfälische Nachrichten (7. September 1996) Panorama.
Ebenfalls einen eher wirkungsorientierten Einsatz erfährt das Zitat, wenn es sich ganz unabhängig von der Dramaturgie des Films ausschließlich an den Zuschauer wendet, indem dieser mit seinen ihm eigenen durch das Zitat hervorgerufenen Emotionen und Assoziationen das Bild bereichern kann. Hierin sieht auch Schneider neben dem musikdramaturgischen Konzepten folgenden Einsatz im Autorenfilm eine weitere Variante. Er bezeichnet sie als musikpsychologischen Einsatz von Zitaten: als strategischer Trick eingesetzt, setzt der Regisseur auf den Mechanismus, daß vertraute Musik stärkere emotionale Zuwendung erfährt, so daß sich die durch die vertraute Musik hervorgerufene Stimmung des Zuschauers schnell auf die Filmbilder überträgt. Auf diesem Wege versucht der Regisseur, den Betrachter in die Filmbilder hineinzuziehen. Sowohl bei Gerhold als auch hier kann man jedoch nicht mehr von

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