- 79 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (78)Nächste Seite (80) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

aus dem Gesetzen der in sich logischen musikalischen Struktur bestimmt, doch konzentrieren sich hingegen Erörterungen zur absoluten Musik hauptsächlich auf die Möglichkeiten des intendierten, musikalischen Ausdrucks und auf einen Gegenbegriff zur Programmusik, während die autonome Musik die Zweckfreiheit in den Vordergrund rückt.

Besselers Termini der »Darbietungsmusik« für autonome und dementgegen der »Umgangsmusik« für funktionale Musik, denen als philosophische Voraussetzung Heideggers Unterscheidung zwischen »Vorhandenem« (distanziert betrachtetem Gegenstand) und »Zuhandenem« (z.B. benutztem Werkzeug) zugrunde liegt, charakterisieren autonome und funktionale Musik von der Seite des Rezipientenverhaltens. Im folgenden werden also daher die Begriffe der autonomen und der Kunstmusik als gleichrangig verwendet. Der Begriff der Kunstmusik als Gegensatz zur Volksmusik charakterisiert vor allem die stilistische Komplexität der Musik und den hohen Anspruch ihrer Wiedergabe und ist als solcher mit dem Begriff der autonomen Musik kompatibel. Die musikalische Eigengesetzlichkeit, auf die der Begriff der autonomen Musik abzielt, ist eine geschichtliche Tatsache. Obwohl die Frage, wie weit sich der Bereich der autonomen Musik in die Vergangenheit erstreckt, davon abhängig ist, welche Definition Historiker für den Terminus wählen, besteht trotz alledem der allgemeine Konsens, daß die europäische Kunstmusik seit dem späten 18. Jahrhundert zum überwiegenden Teil – abgesehen von einigen Arten von Messen – eine »freie Tonkunst« ist, die den Anspruch, um ihrer selbst willen zu bestehen, durch musikalische »Logik« rechtfertigt, d.h. durch innere Geschlossenheit aufgrund von Harmonik und thematisch-motivischer Arbeit. Doch nicht nur aus musikalisch-kompositionstechnischer Geschlossenheit heraus kann ein Werk autonom genannt werden. Die Autonomie schließt nach Dahlhaus ebenso die Absicht des Komponisten als entstehungsgeschichtlichen Aspekt sowie die Rezeptionsnormen des ursprünglichen Publikums mit ein,12

12 Dahlhaus 1992a, S. 72.
was bisher mit dem Begriff des »musikalischen Kontexts« bezeichnet wurde. Obwohl das Verhältnis von autonomer und funktionaler Musik in der Literatur im allgemeinen als antithetisch dargestellt wird, ist gerade der Begriff des musikalischen und rezeptionsgeschichtlichen Kontexts im Falle der Verwendung von autonomer Musik im Film jene Voraussetzung für einen Identitätswandel von autonomer zu funktionaler Musik. Damit demonstriert Filmmusik als eine Form der modernen Medien des 20. Jahrhunderts, wie schnell die Grenzen zwischen Autonomie und Funktionalität von Musik schwimmen können. Zwar verweist die thematisch-motivische Komplexität eines autonomen Zitats auf eine musikimmanente Betrachtung des Werkes, doch beanspruchen die ihm durch die Dramaturgie des Filmes zuerkannten Funktionen eine ebenso große Aufmerksamkeit. Um den Schnitt zwischen autonomer Musik als funktional intendierter Musik im Film zu entschärfen, ist zum einen eine Analyse notwendig, die sowohl ihre durch ihren eigenen als auch durch ihren neuen Kontext hervorgerufenen Funktionen darstellt und sie als Filmmusik rechtfertigt; zum anderen erfordert dies einen werkanalytischen Zugriff, der ihre autonome Herkunft erklärt. Da autonome Musik – entsprechend der These – ihre Anwesenheit im Film durch einen ihr immanenten Kontext rechtfertigt, bedingen sich beide Analysen gegenseitig.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (78)Nächste Seite (80) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 79 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik