- 78 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Kunstdaseins verleiht. In der bürgerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts entstanden, ist dieser Begriff charakteristisch für eine Kunstmusik, die von äußeren, d.h. z.B. liturgischen Funktionen unabhängig, i.e. autonom ist. Der vermeintliche Gegenbegriff ist hier die funktionale Musik, deren Daseinsart durch Zwecke geprägt ist. Eggebrecht definiert sie als Musik, die nicht Kunstmusik, artifizielle oder historisch überlieferte professionelle Musik ist bzw. als solche gilt, kurz, die nicht »sub specie des Begriffs des Artificiums und Kunstwerks, des musikalisch [. . . ] Autonomen [. . . ] zu begreifen«10
10 Eggebrecht 1973, S. 1.
ist. Zur funktionalen Musik zählt Eggebrecht u.a. die sogenannte »Trivialmusik«, Unterhaltungs- und Tanzmusik sowie Schlager, Werbemusik, Pop und Beat. Hierbei unterscheidet er mitunter zwischen einer der Musik immanenten Funktionalität und dem soziologischen Funktionsbegriff.

Eine scharfe Abgrenzung der autonomen zur funktionalen Musik ist insofern schwierig, weil man zu den Funktionen, die von Musik erfüllt werden, außer beispielsweise der Begleitung von Tänzen oder von liturgischen Handlungen auch weniger handgreifliche Zwecke wie etwa die gesellige, die ethische, die Repräsentations- und Prestige- sowie die Unterhaltungs- und Bildungsfunktion zählen kann - Funktionen, die auch die autonome Musik für sich in Anspruch nimmt. Dahlhaus folgert hieraus: »Im Extrem könnte von der autonomen Musik behauptet werden, daß es sie nicht gebe.«11

11 Dahlhaus 1992a, S. 72.
Im umgekehrten Falle hat auch die Musikgeschichte bewiesen, daß auch eine Werteverschiebung von Funktionalität zur Autonomie möglich ist. So hat sich beispielsweise das Requiem, das ehemals eine streng liturgische Gattung darstellte, im 19. Jahrhundert zu einem Werk für den Konzertsaal gewandelt, das an autonomieästhetischen Werten gemessen wird. Auch die Geschichte der Filmmusik liefert hierfür Beweise. Eisler hat grundsätzlich seine Werke nach ihrer Repräsentation im Film in den Konzertsaal verlegt, Schönbergs ursprünglich als Filmmusik komponierte »Begleitmusik zu einer Lichtspielscene« wurde nie verwendet, dafür gilt sie heute umso mehr als ein autonomes Werk.

Die dennoch vielzitierte Antithese zwischen Autonomie und Funktionalität entspricht musikgeschichtlich im wesentlichen dem Gegensatz zwischen »Musik als freier Kunst« und »Musik als dienender Kunst«, wie ihn Kretzschmar 1903 formulierte. Der Begriff der »absoluten Musik«, der als ästhetische Kategorie des 19. Jahrhunderts die »reine« Instrumentalmusik bezeichnet, gilt als absolut im Sinne von »losgelöst« von Texten, Szenarien, Programmen u.ä.. Im 19. Jahrhundert verband man mit dem Begriff der absoluten Musik vornehmlich Sinfonien, später auch Streichquartette, die sich vom unterhaltenden Serienwerk zum anspruchsvollen Einzelwerk emanzipierten. Sie erhoben den Anspruch, in sich selbst sinnvoll zu sein und ohne textliche Anleihen Sinn zu konstituieren. Damit schließt absolute Musik auch Vokal- und besonders Programmusik aus. Damit ist sie keineswegs gleichzusetzen mit autonomer, denn diese schließt Vokal- und Programmusik hingegen nicht aus. Sowohl hierdurch unterscheidet sich autonome von absoluter Musik als auch durch die im 18. und 19. Jahrhundert primär soziologische Bestimmtheit der Rezeption autonomer Musik durch ein bürgerliches Publikum. Bestimmender Charakterzug der autonomen Musik ist im Gegensatz zu funktionaler Musik die Zweckfreiheit. Zwar wird ihre Autonomie – wie bei der absoluten Musik – auch


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