- 77 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (76)Nächste Seite (78) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

»Die Sondermeldungen über den Rußlandfeldzug im sogenannten »Dritten Reich« verwendeten die heroischen Schlußtakte aus »Les Préludes« von Franz Liszt. Sofern eben diese Takte in einem Film von heute zitiert werden, entsteht eine doppelte Assoziation: assoziiert wird zum einen der Liszt’sche Heldenmythos, assoziiert wird zum anderen eine kriegerische Nazi-Attitüde.«6
6 Schmidt 1988, S. 416.

Das heißt: ein musikalisches Zitat erfährt durch seine Anwendung im Film über seinen in den Film transportierten Kontext hinaus eine neue Verweiskraft durch die Dramaturgie des Films, in dem es zitiert wird. Eine natürliche Folge: Musik, die vorher als abstraktes Medium keine direkte Aussage hatte, ist für eine semantische Aufladung in einem neuen Kontext besonders anfällig.7

7 Hans-Christian Schmidt: »Autonomie und Funktionalität von Musik. Gedanken zu einer Polarisierung und ihrer didaktischen Bedeutung.« Schweizerische Musikzeitung 117 (1977) 269.
Dies kann natürlich wie im genannten Beispiel auch eine negativ behaftete oder groteske Konnotation mit sich bringen. Dies, so Schmidt, »zeigt die traurige Kehrseite der Kunstmusik-Integration im Film an. Der filmische Kontext bleibt am Werk haften, wie der Rußlandfeldzug-Sondermeldungs-Geruch an »Les Préludes« von Franz Liszt, und ob das musikalische Werk jeweils wieder in den Stand seiner autonomen Unschuld zurückfindet, bleibt ungewiß.«8
8 Schmidt 1982b, S. 101.
Auf diesem Wege kann sich die Verweiskraft für alle folgenden Filme, in denen es angewandt wird, mitunter vervielfachen. Das Zitat geht nicht »unbeschadet« aus dem Film heraus. Um die Beweisführung oder Widerlegung der These nicht ad absurdum zu führen, wird bei den Filmbeispielen jedoch lediglich der ursprüngliche Kontext des Zitats vorausgesetzt und verwendet, um sein dramaturgische Umsetzung und – entsprechend der These – darüber hinaus eine eventuelle neue Verweiskraft zu analysieren. Eine Analyse der These unter filmhistorischem bzw. rezeptionsgeschichtlichem Aspekt würde hier zu weit führen. Für die Beweisführung oder Widerlegung entscheidend ist hier einzig und allein das allgemeine Prinzip der Anwendung eines Zitats im Film, das zum einen den historischen Kontext transportieren soll, zum anderen durch die Dramaturgie des Films mitunter um eine neue Verweiskraft »bereichert« werden kann. Zwar erläutert Schmidt in diesem Zusammenhang auch die Wirkungsweise des Stilzitats, die nach ähnlichen Prinzipien verläuft, doch beschränkt sich die Thematik der Beweisführung im Rahmen dieser Arbeit auf das im Auszug dargestellte wörtliche Zitat der autonomen Musik. Einige Begriffsdefinitionen sind daher zunächst vonnöten.

5.1.  Zum Begriff der Autonomen Musik

Autonome Musik wird in der Literatur oft mit den Begriffen der »absoluten Musik« oder der »Darbietungs- oder Kunstmusik« in Verbindung gebracht und bezeichnet eine in sich selbst begründete, nicht an Zwecke gebundene Musik, die den Anspruch erhebt und durchzusetzen vermag, um ihrer selbst willen als in sich geschlossenes, eigenständiges Kunstwerk rezipiert zu werden.9

9 Carl Dahlhaus: »Autonome Musik.« In: Carl Dahlhaus/Hans Heinrich Eggebrecht: Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 1. Mainz 1992a, S. 72.
Diesen Anspruch rechtfertigt sie vollständig aus der ihr immanenten musikalischen Logik, die ihr das Gesetz ihres

Erste Seite (i) Vorherige Seite (76)Nächste Seite (78) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 77 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik