- 76 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (75)Nächste Seite (77) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

der Filmmusik in zweifacher Hinsicht: zum einen ist ihre Realisierbarkeit abhängig vom engen bzw. weiten Informationsnetz der Bilder, zum anderen kann der Zuschauer ihr gegenüber weniger Aufmerksamkeit aufbringen als gegenüber der visuellen Schicht. Schmidt folgert: »Insofern ist es logisch, daß sich entwickelte Filmmusik mehr und mehr dem Zustand einer materiellen Entwicklungslosigkeit zubewegte [...]: gute Filmmusik liegt dann vor, wenn sie unter dem Aspekt einer autonomen Ästhetik schlecht ist, d.h. wenn sie sich mit dem Zustand eines rohen, nicht ausgefalteten Materials zufrieden gibt.«3
3 Schmidt 1988, S. 416.

Die Reduktion der Filmmusik zum oben beschriebenen »nackten Material« ist ein Indiz für jene materielle Entwicklungslosigkeit der Filmmusik. Die zweite Entwicklungsrichtung der Filmmusik in einer Zeit der finanziellen Misere des Films ist die »Tendenz zur semantischen Beschriftung«. Schmidt erläutert seine These wie folgt: »Filmmusik wird [...] nur am Rande wahrgenommen, sie wird nur in kurzen Zeitlücken tatsächlich bemerkbar. Insofern ist es verständlich, wenn Filmkomponisten in jüngerer Zeit mehr und mehr auf das beschriftete Material zurückgreifen, will sagen: auf das musikalische Zitat im weitesten Sinne. Zitate haben die Eigenschaft, den gesamten inhaltlichen Kontext, aus dem sie entstammen, augenblicklich mitzutransportieren. Wo immer die Anfangstakte aus Wagners Tristan und Isolde zitiert werden, entsteht das Ambiente von erotischer Schwüle. Wo immer die ersten vier Noten aus Beethovens 5. Sinfonie zitiert werden, klopft irgendein Schicksal an irgendeine Tür. Wann immer die ersten Takte der Dies-irae-Sequenz ertönen, entsteht Weltuntergangsstimmung.«4

4 Schmidt 1988, S. 416.

Ein Zitat kann durch seinen ursprünglichen Kontext auf seinen Inhalt und seine Bedeutung, auf einen geschichtlichen Ort, darüber hinaus auf den regionalen Ursprung sowie auf den sozialen Gehalt verweisen. Maas ordnet dem musikalischen Zitat daher auch eine semantisch-denotative Funktion zu. Um jedoch eine saubere Trennung zu markieren, unterscheidet Schmidt zwischen den wörtlichen musikalischen Zitat einer Quelle und dem Stilzitat: ein wörtliches Zitat liegt dann vor, wenn Themenmaterial aus einem ganz bestimmten Musikwerk übernommen wird. Das Zitat ist im akustisch aufgeklärten Film ein »fremder Gast«, dem besondere Aufmerksamkeit gebührt. Im Film, so Schmidt, interessiere nicht die Werkästhetik, sondern dessen wirkungsästhetische Eigenschaften. Gefühle, Assoziationen, Erinnerungen, soweit sie mit dem Zitat vor seiner Integration in den Film verbunden sind, würden durch seine Verwendung als filmmusikalische Chiffre wieder ausgelöst und im Kontext der der jeweiligen Szene respektive der Gesamthandlung bedeutsam. Insofern ordnet Schmidt dem Zitat eine Art von »Ruf-Charakteristik« zu.5

5 Schmidt 1982b, S. 100.
Doch führt er seine These noch weiter: Das Zitat transportiert nicht nur seinen gesamten inhaltlichen Kontext in den Film hinein, es kann darüber hinaus in seiner »neuen Umgebung« eine neue Verweiskraft, einen neuen Kontext, erhalten:

Erste Seite (i) Vorherige Seite (75)Nächste Seite (77) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 76 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik