Dennoch hat die
Analyse eine Frage aufgeworfen: Kann der Zuschauer in den wenigen Minuten,
in denen Musiktakes eingesetzt werden, einen funktionalen Zusammenhang
nachvollziehen, der eine ausführliche Analyse des musikalischen und des dramaturgischen
Zusammenhangs erfordert? Im Falle von Viscontis Tod in Venedig ist es ratsam, die
zitierten Werke Manns zu kennen, um Viscontis Gedankengang und letztlich die
Rolle der Musik deuten zu können. Auch Kubrick illustriert mit dem Einsatz
Beethovens ein Rezeptionsverhalten gegenüber der Neunten, das durch die letzte
Sequenz regelrecht revidiert wird. Zwar widerlegt die Analyse von Tod in Venedig
Kloppenburgs Kritik, das Zitat greife nicht ausreichend in die Handlung des Films ein,
denn gerade dies bewerkstelligt sie durch ihren semantischen Gehalt. Dennoch
ist Kloppenburgs Einwand, autonome Musik im Film beschränke sich auf ein
Insider-Publikum, nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch dies muß nichts
Nachteiliges bedeuten. Die Musik ohne Kenntnisse der entstehungsgeschichtlichen
Zusammenhänge der Werke und ihrer Komponisten zu genießen, ist sicherlich nicht
tragisch, wird ihrer Funktion und dem dramaturgischen Potential, das in ihr
steckt, in dem Moment jedoch keineswegs gerecht. In dieser Hinsicht ist es nicht
gerechtfertigt, das Zitat aus Gründen der Gefahr einer »Unkenntlichkeit« abzulehnen.
Falls der Zuschauer die Zusammenhänge realisiert, so ist es in der Tat eine
Bereicherung, nicht nur in musikästhetischer, sondern auch in dramaturgischer
Hinsicht. Falls dem Zuschauer die Bedeutung jedoch verborgen bleibt, so bleibt
ihm die nicht zu unterschätzende psychologische Wirkungsästhetik von Zitaten
autonomer Musik. Die »Gefahr«, das Zitat auf die reine Wirkungsästhetik zu
reduzieren, hat bereits Motte-Haber angesprochen. Eine Untersuchung aus
wirkungsanalytischer Perspektive wäre hier ein nächster Schritt. Zentrale Fragen seien
beispielsweise: welche Wirkung hat autonome Musik im Film, wenn der Zuschauer das
Zitat erkennt? Wie rezipiert er die Handlung und die Charaktere? Wirkt die
Musik emotionaler, indem er Handlung und Charaktere des Films während
der Rezeption im Sinne des affektiven Gedächtnisses mit eigenen Erfahrungen
vermischt?
Autonome Musik im Film entspricht der Auffassung Schönbergs, nach der der Kunstanspruch autonomer Musik und der Gebrauchswert im Sinne einer Filmmusik miteinander zu vereinen sind – das, was Motte-Haber unter den Begriff der »Film-Musik als Filmmusik« faßt. Es handelt sich um eine Filmmusik, die mit einem traditionellen Kunstanspruch kompatibel ist. Doch weicht der »schöne Schein«, den Motte-Haber ihr ankreidet, einer überlegten Funktionalität. Aus diesem Grunde ist auch Danusers Begriff der »mittleren Musik« anwendbar, denn zum einen garantiert sie einen gewissen Kunstanspruch, zum anderen erfüllt sie die Bedingungen einer funktionalen Filmmusik. Die »Symbiose« unterschiedlicher Kunstformen im Film ist heute umso gefragter. In dieser Hinsicht wird es wahrscheinlich immer autonome Musik im Film geben. Sie ist zudem längst nicht mehr ausschließlich auf den Autorenfilm beschränkt. Filme wie Schindlers Liste, Der Englische Patient, Das Schweigen der Lämmer oder Philadelphia demonstrieren, daß autonome Musik auch Einzug in die arbeitsteiligen Hollywoodproduktionen hält. Dabei überschreitet sie alle Grenzen der Filmgenres. So findet sie sich im Liebesdrama genauso wieder wie im Actionfilm. Die Kunst tendiert heute vermehrt dazu, aus Altem zu schöpfen, um etwas reizvoll Neues zu schaffen. Das Bedürfnis nach Historizität scheint stets vorhanden |