- 449 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Aufklärung und Romantik. Dadurch reflektiert sie eine Geisteshaltung, die der humanistischen Dialektik entspricht, welche beide Regisseure in ihren Filmen verwirklichen. Gerade im Falle von Kubricks Uhrwerk Orange deutet sie mehr denn je darauf hin, indem sie eine Geisteshaltung des 18. und 19. Jahrhunderts repräsentiert, die sowohl in der Gegenwart als auch in der futuristischen Welt von Alex noch Gültigkeit beansprucht. Als solche ist die Musik ein Spiegel historischer wie zeitgenössischer Kulturtendenzen.

Die Filmbeispiele haben darüber hinaus gezeigt, daß sich filmische Dramaturgien oft um thematische Konstanten wie Liebe, Tod, Gewalt, Angst und Aggressionen bis hin zur Perversion drehen. Dementsprechend bewegt sich auch autonome Musik im Film stets zwischen Zivilisation und Urzustand, menschlicher Zuneigung und Gewalt, Weltverherrlichung und Katastrophe. So taucht sie oft in Szenen auf, in denen ein hohes Maß an Gewalt herrscht, man denke nur an Das Schweigen der Lämmer, Schindlers Liste oder Uhrwerk Orange. In dieser Hinsicht fungiert autonome Musik, die stets als ein Signum westlicher Zivilisation gilt, im Film in höchstem Maße »anthropologisch«, da sie mal subtil, mal erschreckend direkt wie in Demmes Das Schweigen der Lämmer, Der Tod und das Mädchen oder laut fordernd wie in Coppolas Apocalypse Now demonstriert, daß auch der kultivierte Mensch noch »Urzustände« in sich birgt. Diese werden in einem zivilisierten Umfeld, das durch autonome Musik zusätzlich affirmativ bestätigt wird, umso offenbarer.

Die meisten behandelten Filme sparen während der Musiktakes einen ausführlichen Dialog auf. Die Regisseure räumen den Zitaten somit einen dramaturgischen Platz ein, der zumindest rein äußerlich der Stummfilmpraxis nahekommt. Bloß: in der Stummfilmpraxis erklärte sich die Benutzung autonomer Musik aus dem Mangel an verfügbarer Originalliteratur. Sie wurde gezielt forciert, um die bürgerliche Klientel als potentielles Publikum zu gewinnen. Die konkrete »Funktion« geht über die Kompilation nicht hinaus, welche neben der Werbewirksamkeit lediglich die Lücke zwischen dem Bild und dem Zuschauer im Dunkeln zu schließen hatte. Daß die in den Filmen behandelten Zitate anders motiviert sind, ist hinreichend bewiesen worden. Somit: kein »Rückschritt« oder »Rückfall« in die Stummfilmpraxis. Genau das Gegenteil trifft zu: die Regisseure ziehen die Summe. Der Rückgriff auf autonome Musik ist nicht nur ein Versuch, das funktionale Potential, das Kunstmusik mit der Kinokrise der sechziger Jahre erreicht, zu bewahren, sondern darüber hinaus zu steigern unter Berücksichtigung all dessen, was vorher geleistet worden ist. Die Regisseure fügen sich nahtlos der Entwicklung eines filmmusikwissenschaftlichen Funktionsverständnisses, das darauf abzielt, was Adorno und Eisler stets den immanent-musikalischen Qualitäten von Filmmusik abverlangten: die Tilgung von »Klischee und Floskel«. Daß dies nicht unbedingt der modernen Musik vorbehalten ist, hat sich bei der Untersuchung der Filmbeispiele ebenso bestätigt. Zu dieser Dialektik gehört jedoch, daß besonders Regisseure wie Visconti und Kubrick klischiertes und floskelhaftes Funktionsdenken nicht überwinden, das durch den Gebrauch autonomer Musik im Stummfilm entstanden ist, sondern umgekehrt, indem sie der Musik im medialen Massenbetrieb Vernutztes durch Berufung auf die musikalische Quelle selber funktionalisieren und damit neue Perspektiven eröffnen. Als solche bringt die Musik nicht nur ihren semantischen Kontext in den Film ein, sie wird durch die Dramaturgie zum Träger einer realistischen Aussage.


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