- 448 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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auch die Musik prägt. Ist dieses nicht »scharf« genug, so bleibt zumindest eine Assoziation der Musik mit dem Film, in dem sie zitiert wurde.

Ähnlich wie Polanski in Rosemaries Baby nutzen auch die Gebrüder Taviani bereits vorhandene musikalische Konnotationen. Indem sie den sozialen Aufstieg Gavinos in Mein Vater, mein Herr als Präzedenzfall einer kollektiven Erfahrung aufbereiten, bedienen sie sich lediglich der ebenso »kollektiven Qualitäten« des Fledermaus-Walzers oder des Klarinettenkonzerts von Mozart, ohne sie semantisch unmittelbar neu zu besetzen. Ingmar Bergman setzt autonome Musik in seinem Film Herbstsonate ähnlich wie Louis Malle auf eine psychologisch sehr feinsinnige Art und Weise ein. Dabei nutzt er die formalen Qualitäten von Prélude und »Konfliktfuge« für seine dramaturgische Anlage. Darüber hinaus wird die Musik zum einem »Röntgenbild« der individuellen Seelenlandschaften der Charaktere. Doch erschweren sowohl Bergmans poetischer Realismus wie auch das Moment der möglichen Austauschbarkeit der Zitate eine prägende filmische Semantisierung.

Im Gegensatz zu Malle oder Bergman geht Demme in Das Schweigen der Lämmer mit Bachs Goldberg-Variationen gleichermaßen rabiat wie genial »ins Gericht«. Im Zusammenspiel von musikalischer Leidenschaft und Perversion entsteht durch die Musik ein präzises Psychogramm des Kannibalen Lecter. Zugleich wird Bachs Komposition in Richtung des Abnormen gedrängt, das die Grenzen des Zumutbaren schon fast übersteigt. Diese Konstellation zwischen Musik und Dramaturgie ergibt sich ebenso in Polanskis Der Tod und das Mädchen. Das Allegro des gleichnamigen Schubertschen Streichquartetts fungiert darüber hinaus als dramaturgischer Schlüssel, der den Zuschauer den ebenso gesellschaftlichen Grenzbereich zwischen Normalität und Perversion erkennen läßt. In dieser Hinsicht bestätigen beide Filme die These in ihrer vollständigen Form. Coppolas Apocalypse Now ist ein Beispiel für die Tatsache, daß ein Zitat auch innerhalb der Filmgeschichte eine ganz eigene Rezeptionsgeschichte entwickeln kann, die jederzeit abrufbar ist.

Die Analyse der beiden Filme Tod in Venedig und Uhrwerk Orange hat die vorangestellte These ebenso in jeder Hinsicht bestätigt. In beiden Fällen wird die Musik zum Träger eines kulturdialektischen Prinzips zwischen Aufklärung und Romantik - jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven. Während Viscontis Protagonist ein Vertreter des bürgerlich appollonischen Ideals ist, stellt Alex zunächst den dionysisch-unberechenbaren Außenseiter der Gesellschaft dar. Die Entwicklung beider verläuft in entgegengesetzte Richtungen. Dabei stellt Viscontis Film nicht nur eine eigenständige Interpretation der Venedignovelle dar, der Regisseur ordnet den Film auch in angemessener Form dem Gesamtwerk Thomas Manns zu. Im Zusammenwirken von Bild und Musik entsteht die Interpretation des geschriebenen Textes. Zugleich muß man Gustav Mahler als eines der authentischen Vorbilder Manns ansehen. So wird die Musik in Viscontis Tod in Venedig zu einem eigenständigen Ausdruckssystem, das Deutungen vornimmt, die visuell oft noch nicht fixiert sind. Entsprechend der Dramaturgie wird Mahlers Adagietto zu einer Todesmelodie, während die Neunte Beethovens den Wandel von satanischer Inspiration zum Aushängeschild einer gewalttätigen Gesellschaft vollzieht. Doch handelt es sich hier um eine Neusemantisierung, die den Fetischcharakter des Werkes entlarvt. Insofern ist Kloppenburgs Kritik, ein Zitat entbehre jedes Realitätsgehalts, nicht unbedingt gerechtfertigt, denn in beiden Filmen charakterisiert die Musik jene Dialektik zwischen


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