- 419 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Der dritte Einsatz Schuberts begleitet erneut ein »Duett« zwischen Paulina und Gerardo in der dramaturgischen Phase der Spannungssteigerung. An dieser Stelle der Handlung erfahren wir zum ersten Mal Paulinas Geschichte und das Ausmaß ihrer seelischen wie körperlichen Verletzungen. Als die beiden auf die Veranda treten, wird die Musik heruntergefahren, sie ist lediglich schwach im Hintergrund hörbar, jedoch laut genug, um die musikalischen Akzente während der Unterhaltung zwischen Paulina und Gerardo deutlich hervortreten zu lassen. Dadurch erhält das Gespräch der beiden wiederum jenen Charakter eines dicht gedrängten Schlagabtausches, in dem Paulinas Emotionen herausbrechen wie in Schuberts Musik. Dementsprechend erfüllt die Exposition des Quartetts eine ähnliche Funktion wie in Szene 24: sie paraphrasiert Rede und Gegenrede: während Gerardo hilflos an Paulinas Vernunft appelliert, besteht diese hartnäckig auf ihrer Anklage. So unterstützt die Musik die Spannung des langen Gespräches. Mit dem Übergang zur Durchführung beginnt Paulina mit ihrer Geschichte. In dieser Szene wird der Zusammenhang zwischen dem Quartett und der Todesauffassung im Claudius-Lied am deutlichsten. Die Rollen werden wieder vertauscht: Paulina erscheint in ihrer Geschichte nun als das Mädchen, das sich wie in einem dramatischen Rezitativ atemlos stockend ihr Trauma von der Seele redet. Nach ihrer Folter sieht sie sich dem Tod – Miranda – gegenüber. Gemäß dem Lied kommt er nicht, »um zu strafen« – er lindert wie durch »Zauberei« ihren Schmerz, er beruhigt sie und versorgt ihre Wunden. Er wiegt sie in Sicherheit und »spielt« Der Tod und das Mädchen. Dies ist geradezu wörtlich zu nehmen, denn Paulinas Schilderungen entsprechen dem Inhalt des Claudius-Liedes. Miranda erscheint hier zunächst als Freund, der Paulina durch Musik zu trösten versucht und sich um sie sorgt. Doch wie bereits in Szene 24 handelt es sich auch hier um einen Trugschluß, denn Polanskis Pervertierung des Komponisten folgt sofort, denn die Musik dient nicht etwa der Beruhigung Paulinas als vielmehr der Inspiration Mirandas, um sie zu vergewaltigen. Scheinbar edle Motive verkehrt Polanski sogleich ins absolute Trauma. Dem Zeithaben des Todes entspricht hier Mirandas Absicht, Paulina zu quälen, »damit sie wußte, was er vorhatte«, wie er später im Geständnis bekundet. Diesen Moment bitterer und ernüchternder Erkenntnis kostet Polanski auch musikalisch sehr wirkungsvoll aus. Während Paulina in Großaufnahme mit starrem Blick akribisch von dem Moment ihrer Vergewaltigung berichtet, steigert sich die Durchführung in jener groß angelegten Steigerung (Takte 176 bis 197). Die Dramatik dieser motivisch dich-ten Entwicklung wird nicht zuletzt durch den punktierten Dominant-Orgelpunkt im Baß und den gehetzten Staccati-Triolen der ersten und zweiten Violine bewirkt, als solche fungiert die Musik in jeder Hinsicht dramaturgisch wie psychologisch affirmativ. Auf dem Höhepunkt der musikalischen Steigerung setzt die Reprise des Satzes wiederum in Form jenes hartnäckigen »Schicksalsmotives« mit erschütternder Endgültigkeit ein, an diesem Punkt ist auch Paulina an ihrem seelischen Tiefpunkt angelangt, d.h. Musik und dramaturgisches Geschehen verhalten sich absolut kompatibel zueinander und durchdringen sich gegenseitig. Paulinas Monolog ist beherrscht von der ernüchternden Erkenntnis »roher Gewalt« und »totaler Macht«, eine Semantik, die auch von der musikalischen Ebene getragen wird.

Mit dem Einsatz des zweiten Thema in der Reprise verläßt Paulina die Rolle des Opfers und wird wieder zur erbitterten Rächerin ihrer Vergangenheit. Daß die


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