- 418 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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lauten. Diese reiben sich nun aneinander wie die Themen innerhalb von Schuberts Durchführung, Mirandas Verhandlung beginnt. Bezeichnenderweise blendet Polanski die Musik an dieser Stelle aus, denn fürs erste hat sie ihren Zweck erfüllt, nämlich Hintergrund und Positionen dramaturgisch zu unterstützen. Damit agiert die Musik in dieser Szene sowohl syntaktisch als auch in ästhetischer Hinsicht: als Kristallisationskern der Szene (Kracauer) zwar nicht verbildlicht, bietet sie dennoch die Handlungsgrundlage. Für Paulina repräsentiert sie das Hauptindiz für Mirandas Schuld, sie dient zugleich als eine Art psychologisch affirmative Erkennungsmarke, auf deren Basis sich nun die Handlung fortträgt.

Würde man die Musik ausblenden, so würden die Dialoge nur halb so dramatisch »herüberkommen«, d.h. Schuberts dramatischer erster Satz beflügelt die Monologe nicht nur in Rhythmus und Tempo, sondern nicht zuletzt auch in semantischer Hinsicht. Das Quartett fließt so konzentriert im Hintergrund wie die Dialoge im Vordergrund des Geschehens. Text und musikalischer Verlauf durchdringen sich gegenseitig, die Analogie erweist sich dabei als überaus symmetrisch. Dies widerlegt zugleich Schneiders Theorie, nach der langsame musikalische Phrasen eher geeignet sind, den Bildverlauf zu beschleunigen. Indem sich Musik und Bild hier zu einer temporeichen Dichte vereinen, wird auch die Handlung in Struktur und Spannung beschleunigt. Szene 24 ist eine Schlüsselszene im Verlauf des gesamten Films, da wir hier erstmals das Ausmaß von Paulinas psychischem Zustand und die Rolle der Musik erahnen. Indem Polanski sie über eine weite Strecke mit Schuberts Quartett unterlegt, kennzeichnet er zum einen ihre Brisanz, zum anderen hält er eine Spannung aufrecht, die nicht zuletzt durch den dichten Verlauf des ersten Satz garantiert wird.

In Szene 24 diente das Quartett also zunächst der Rollendefinition zwischen Miranda und Paulina in Vergangenheit und Gegenwart. Diese Konstellation wird in Szene 28 konsequent weitergeführt. Paulina klagt Miranda ihrer systematischen Folterung und Vergewaltigung in 14 Fällen an. Sie wird nun mehr denn je zur »gnadenlosen Rächerin« – ein Charakterisierung, die an die poetische Idee der Dies irae erinnert, die Wolff in Zusammenhang mit der Todesthematik des Quartetts erwähnt. Miranda verharrt weiterhin in der Rolle des Opfers. Die Verhandlung gerät für ihn zu einer unabänderlichen Tatsache, an deren Ende möglicherweise sein Tod steht. Dieser wird durch den erneuten Einsatz des ersten Satzes des Streichquartetts suggeriert. Paulina nutzt die Musik bewußt als eine Art »psychologisches Folterinstrument«, indem sie den Rekorder anstellt, während sie und Gerardo auf der Veranda über ihr weiteres Vorgehen beraten. Damit agiert Schuberts Musik zunächst wieder affirmativ als Todessymbol, als ultimatives Damoklesschwert, das über dem gefesselten Miranda schwebt. »Unschuld« und »Mißbrauch« Schuberts liegen auch hier wieder eng beieinander. Mit entrückter bekümmerter Stimme sagt Paulina: »Was für ein trauriger und schöner Mann Schubert gewesen sein muß. . . Wußtest du, daß er homosexuell war?« Im gleichen Moment erfolgt wieder die semantische Pervertierung des Komponisten: »Du hast es mir ja gesagt: er war ne’ Schwuchtel! Aber du magst keine Schwuchteln!« Monologe dieser Art demonstrieren Paulinas leidenschaftliche Identifikation mit der Musik ihres Lieblingskomponisten – nicht nur sie wurde durch Miranda mißbraucht, auch Schubert hat in ihrer Vergangenheit unwiderruflich Schaden genommen.


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