- 417 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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pausiert, verkündet Paulina fest entschlossen »Er ist es!«, Gerardo weiß nicht, von wem sie spricht. Mit dem Beginn des 2. Themas erhält er die Antwort: »Der Doktor, der Der Tod und das Mädchen gespielt hat« – rhythmisch gesehen liegt hier eine deutliche Analogie vor, mit der Polanski auch den weiteren Verlauf des Dialoges zwischen Paulina und Gerardo sowohl optisch durch die Kameraeinstellungen als auch akustisch durch Text und Musik strukturiert. Die zahlreichen Modulationen, harmonischen Rückungen und abrupten Stimmungswechsel des dahinfließenden Seitensatzes entsprechen der ersten Auseinandersetzung zwischen Paulina und Gerardo zur Identität Mirandas. Beide sprechen in kurzen Sätzen, das dichte Tempo ihres Dialoges entspricht dem gedrängten ungleichmäßigen Verlauf der Musik, der vor allem durch musikalische Akzente, den kontinuierlichen Wechsel zwischen punktierter Melodie und Sechzehntelläufen, zwischen Forte und Piano garantiert wird. Die harmonische Odyssee paraphrasiert darüber hinaus das Wechselbad der Gefühle: Paulina, fest entschlossen, mal aufgewühlt, dann wieder stoisch und unerbittlich, Gerardo zunächst ungläubig, dann zu Tode erschreckt, als Paulina einen Warnschuß abfeuert. Der groß angelegten szenischen Dichte entsprechen auch die Kameraeinstellungen, die im Wechsel von Großaufnahmen und Totaler immer rascher aufeinanderfolgen. Doch sind visuelle und auditive Ebene nicht nur strukturell miteinander verwoben. Paulinas Worte deuten darauf hin, daß die Rollenverteilung zwischen ihr und Miranda in der Vergangenheit eine andere gewesen sein muß. Mit haßerfülltem sarkastischen Unterton nennt Paulina den Arzt ihren »Engel der Barmherzigkeit« – ein Hinweis auf die Todesvorstellung des Claudius-Liedes vom Tod als dem sanften Boten aus der Götterwelt, der das Mädchen in tiefernster Trostgebärde in seinen Armen wiegt. Insofern greift an dieser Stelle neben der syntaktischen auch die semantische Dimension des Schubert-Zitates. Mit der Vorstellung des »barmherzigen Engels«, der »dem Miststück noch fünf Volt gibt«, pervertiert Polanski jedoch noch im selben Moment mit rhetorischer Brillanz jenes von Claudius suggerierte Todesbild. Die fast schon unschuldig anmutende Vorstellung vom sanften Samariter erhält unweigerlich einen tiefen Sprung, der die unmenschlichen Abgründe in Paulinas Seele und damit auch in ihrer Vergangenheit erahnen läßt. Der kontinuierliche Wechsel von Spannung und Entspannung in der Musik zeigt sich wiederum in einer der nächsten Einstellungen: mit ultimativer Sicherheit weist Paulina auf Mirandas Geruch als eine Art Erkennungsmarke hin, während die Melodie im Hintergrund wie in einem angespannten Perpetuum Mobile in sich selbst kreist. Der daraufhin so unbeschwert wirkende Dur-Charakter der Musik ist genauso trügerisch – das akzentuierte Unisono (Takt 112 bis 113) unterbricht die so unbekümmert fließende Melodie mit insistierender Hartnäckigkeit und suggeriert erneut die latent stets vorhandene Todessymbolik.

Mit der Durchführung (ab Takt 141) der beiden Themen wird nicht nur Schuberts Satztechnik komplex, auch die dramaturgische Handlung tritt in eine komplexe Phase. Damit enthüllt die Musik mehr denn je ihre syntaktische Funktion innerhalb der Dramaturgie, denn kompositorische und dramaturgische Struktur verhalten sich – wie auch die Gesamtanlage des Dramas – analog zueinander. Dies zeigt, wie sehr der gesamte Film durch die Musik beherrscht wird. Mit der Exposition des ersten Satzes wurden die beiden Themen, dramaturgisch gesehen die beiden Positionen vorgestellt, die auf »Schuldig« (Paulina) und »Nicht-Schuldig« (Gerardo)


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