- 416 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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den in Panik geratenden Miranda im Arm hält und sich ihm mit zynisch sanften Worten vorstellt. Der Vergleich ist insofern zulässig, da diese erste Bekanntschaft zwischen den beiden mit einem erneuten Einsatz des Streichquartetts in Szene 24 einhergeht. Musik, Kameraeinstellungen und Dialog verhalten sich anfangs recht symmetrisch zueinander. Mit dem zweiten Einsatz des »Schicksalsmotives« verweilt die Kamera für einige Sekunden auf Miranda. Damit relativiert Polanski gleich seine Perspektiven. Vergeblich sucht man nach einer aussagekräftigen Regung in Mirandas Gesichtsausdruck. Die Andeutung des »leidenden Mädchens« im Prolog wird nun erstmals konkretisiert. Der nächste Schnitt auf Paulina offenbart ein Wechselbad der Gefühle, die – in Gegenwart des »Todes«, den Miranda für sie verkörpert – von äußerster Angespanntheit bis zu mühsam unterdrückter Hilflosigkeit reichen. So wie die ersten 14 Takte des Quartetts als »Vorspiel« für den vergleichbaren Einsatz der »Stimme« dienen, so erfüllen sie auch hier die Funktion eines dramaturgischen Vorspiels, denn mit dem Beginn der unruhevollen Melodie erfolgt der nächste Schnitt: Gerardo wird durch die Musik aus seinem Alkoholrausch gerissen, er tritt ins Wohnzimmer, und damit beginnt jenes psychologisch brisante Tribunal zwischen den drei Charakteren, in dem die Dialoge gleich einem Rezitativ einem so angespannt motorischen Rhythmus folgen wie Schuberts Melodie. Die Chromatik dieser melodischen Linie und das accompagnato in Gestalt der Triolen beziehen sich, so wurde oben festgestellt, direkt auf die Mädchenstrophe des Claudius-Liedes. Bezeichnenderweise begleitet dieses Paulinas Monolog. Damit gibt Polanski einen ersten konkreten Hinweis auf eine ursprüngliche Rollenverteilung zwischen Paulina und Miranda, die auf Schuberts Lied zurückgeht. Paulina, anfangs noch so kraftvoll und unerbittlich wie die Musik, offenbart nun ihre verletzliche und resignierte Seite. Während sich im Hintergrund das Unisono – an sich ein musikalisches Todessymbol – dem Hörer wieder hartnäckig ins Gedächtnis ruft, erzählt Paulina erstmals von der Bedeutung dieses Quartetts: »Wenn es im Radio kommt, stelle ich es aus. [. . . ] Es macht mich körperlich krank, es zu hören.« Die musikalische Überleitung zum zweiten Thema bedeutet auch für Paulina eine Vorbereitung, die einer erneuten Drohgebärde nahekommt: »Es wird Zeit, meinen Schubert zurückzufordern, meinen Lieblingskomponisten! Wenn man bedenkt, daß ich meine ganze Sammlung weggeschmissen habe. . . « Ihr Schubert wurde ihr in der Vergangenheit also genommen aus Gründen, die wir als Zuschauer an dieser Stelle noch nicht einzuordnen vermögen. Die Anlage der gesamten Szene läßt jedoch die geballte Dramatik vermuten, die sich hinter Äußerungen dieser Art verbergen.

Auffällig ist, wie sehr sich der Rhythmus der Dialoge der musikalischen Anlage des Satzes anpaßt. Zwar kann man rhythmische und expressive Analogien zwischen Sprache und Musik in einer Szene ad absurdum treiben – man sollte sich davor hüten, in Analogien dieser Art semantisch gesehen zuviel hineinzuinterpretieren, doch ist die Parallelität von Spannung und Entspannung in Text und Musik hier unüberhörbar. So warnt Paulina ihren verdutzten Mann mit harter Stimme davor, Miranda anzurühren, während sich die Musik im Hintergrund kurzweilig in ein spannungsreiches Forte steigert, um sofort wieder ins Piano zurückzusinken. Die Überleitung endet auf zwei verminderten Septakkorden (Takte 59 und 60), sie weckt die Erwartung des Hörers für den weiteren Verlauf. Auch im Dialog zwischen Paulina und Gerardo entsteht eine Erwartungshaltung. Während die Musik


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