- 415 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Auf diese Weise verbindet es die Aufzüge der dramatischen Anlage mit insistierender Hartnäckigkeit. Die eindringliche Dramatik des gesamten Satzes rückt die Musik in jeder Szene, in der sie zitiert wird, unweigerlich in den Mittelpunkt, von dem aus sie sowohl formal wie auch semantisch in den Film einzugreifen vermag.

Bereits in der ersten Szene setzt Polanski das Streichquartett sehr wirkungsvoll ein. Während der Vorspann uns noch unaufdringlich über Produzenten und den Regisseur informiert, erklingt im Hintergrund – fast unmerklich – eine Konzertsaalatmosphäre: Musiker stimmen leise ihre Streichinstrumente, allgemeines Stimmengemurmel, ein Vorspann der trügerischen Ruhe. Völlig unvermittelt – und für den noch unaufmerksamen Zuschauer recht erschreckend – erklingt mit dem Schnitt auf die vier Saiten eines Cellos das dramatische Unisono der ersten beiden Takte. Ein grimmiger Auftakt, der den ahnungslosen Zuschauer schonungslos ins dramaturgische Geschehen wirft. Einsätze solcher Art ohne jegliche Vorwarnung werden meist als Verstoß gegen die Hörgewohnheiten und als unsensibler Angriff auf das Ohr des Zuschauers gewertet, doch verhält es sich hier vollkommen anders. Die ersten fünf Töne des Satzes, das Unisono im Fortissimo, die in einer Triole sinkende Melodie reichen aus, um den Zuschauer musikalisch »aufzustacheln«. Sie definieren bereits den tragischen Grundton des gesamten Films. Auf diese Weise wird die Musik als künstliches und bewußt gesetztes Mittel erkennbar. Die Detailaufnahme enthüllt sogleich die Musikquelle; sie wirkt wie ein Possessivpronomen auf alle folgenden Einstellungen. So öffnet sich der Blick mit dem nächsten Schnitt: wir befinden uns in einem Konzertsaal, auf der Bühne spielt ein Streicherensemble Schuberts Quartett Der Tod und das Mädchen. Damit tritt die Musik in einer ihrer natürlichsten Rollen auf. Polanski geht hier sehr symmetrisch vor, denn mit der nächsten Pause nach dem zweiten Unisono erfolgt der dritte Schnitt: Paulina ergreift hilfesuchend die Hand ihres Mannes und drückt sie fest. Daß dies einer Verzweiflungsgeste nahekommt, enthüllt der nächste Schnitt. Paulinas Blick ist erstarrt, ihre Haltung ist zwar aufrecht und diszipliniert, aber innerlich scheint sie genauso aufgewühlt zu sein wie die Musik. Nach der eher unpersönlichen Totalen des Streicherensembles wird die Distanz mit diesen beiden Einstellungen vollkommen zur Seite geschoben. Die Nahaufnahme Paulinas »personifiziert« die Musik. Der Zuschauer baut sogleich eine fiktive Nähe zu ihr auf, die durch die Musik zudem emotional eingefärbt ist. Obwohl wir an dieser Stelle noch im unklaren gelassen werden, deutet Paulinas Reaktion auf den düsteren Quartettauftakt bereits an, daß diese Musik für sie eine Bedeutung haben muß, die über den rein musikalischen Enthusiasmus hinausgeht. Indem Polanski Schuberts Musik gleich in der ersten Einstellung in den dramaturgischen Mittelpunkt rückt, suggeriert er ihre zentrale Bedeutung für den gesamten Film. Damit dient die Musik in diesem Prolog in erster Linie der dramaturgischen Antizipation und der affirmativen Bildeinstimmung. Da der Prolog sich der Tradition entsprechend immer an den Zuschauer wendet, setzt Polanski damit zwei Weichen, auf die es zu achten gilt: das Streichquartett und seine Bedeutung für Paulina.

Mit der Szene 23 werden die Rollen zunächst vertauscht: das Opfer übernimmt die Gewalt über seinen ehemaligen Folterknecht. Geht man von der Konstellation des Claudius-Liedes aus, so findet auch hier eine Rollenverkehrung statt. Das »Mädchen« Paulina ist es nun, die zunächst als »plötzlicher Schrecken« kommt, die


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