des Zuschauers, indem er jeden Charakter in
seiner Glaubwürdigkeit zunächst bestätigt, im nächsten Moment jedoch wieder
erschüttert. Keiner ist vollkommen unschuldig, verläßlich. Damit vermeidet er
jegliche subjektive Erzählperspektive. Nach dem mißglückten Fluchtversuch
Mirandas ist Paulinas Geduld am Ende, die Handlung geht ihrem Höhepunkt
entgegen. Mirandas »Alibi« (Szene 36) bildet noch einmal ein retardierendes
Element, bevor die Wahrheit endgültig ausgesprochen wird. Das Geständnis des
Arztes am Klippenabgrund (Szene 37) bringt die Spannung auf ihren Höhepunkt,
psychologisch gesehen erreichen sowohl die Charaktere als auch der Zuschauer einen
moralischen Tiefpunkt, denn Mirandas Geständnis bringt die erschreckende Dimension
zwischenmenschlicher Grausamkeit und sexueller Perversion ans Tageslicht. Auch
die Ethik erreicht ihren Tiefpunkt, denn für Miranda ist der Geschmack des
Bösen eine Berauschung, welche die Sinne des Menschen vollständig einnebelt.
Anstatt Reue zu zeigen, trauert er den verlorenen Zeiten lediglich nach, »in
denen man nicht nett sein mußte«. Damit versetzt er der Moral den endgültigen
Todesstoß.
Mit dem abschließenden Epilog (Szene 38) fällt die Spannung, der dramaturgische
Kreis schließt sich: Paulina, Gerardo und Miranda sitzen wieder im Schubert-Konzert –
ein theatralischer Kunstgriff, der einem déjà vu nahekommt. Entsprechend der
aristotelischen Tragödientheorie tritt nun die Katharsis ein, die »Reinigung von Jammer
und Schaudern«. Diese betrifft nicht nur den Zuschauer, sondern auch die Charaktere
dieser Tragödie. Besonders Paulina bot das zufällige Zusammentreffen mit ihrem
ehemaligen Folterknecht eine Gelegenheit, sich von ihren aufgestauten Emotionen zu
befreien und ihren Haß abzulegen. Das Geständnis bedeutete auch für Miranda einen
Weg zur Selbsterkenntnis. Obwohl Polanski mit dieser Szene den Film inhaltlich wie
formal schließt, bleibt dennoch eine Spur von Unzufriedenheit. Die Frage nach den
Tätern der Militärdiktatur ist nach wie vor latent vorhanden, zumal diese sich – wie an
Miranda und seiner Familie erkennbar – mit einer bürgerlichen Maske tarnen. Am Ende
steht zumindest die Erfahrung, daß Opfer und Folterer zusammen in einem Land
weiterleben werden und müssen, das »Wie« steht hingegen auf einem anderen
Blatt.
13.3. Franz Schubert: Streichquartett d-Moll D 810, Der Tod und das Mädchen, I.
Satz Allegro
13.3.1. Der musikalische Kontext des Zitats
Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen entstand im Jahre 1824,
öffentlich uraufgeführt wurde es jedoch erst im Jahre 1833 in Berlin. Es ist
eine der bekanntesten Kompositionen Schuberts. Dies spiegelt sich auch in
mehreren Bearbeitungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wider, allen voran
Mahlers Bearbeitung des gesamten Quartetts für Streichorchester und Cornelius’
Umwandlung des Themas des zweiten Satzes in das Chorlied Grablied. Pilger auf
Erden.9
9 Michael Raab: Franz Schubert. Instrumentale Bearbeitungen eigener Lieder
(= Studien zur Musik, hrsg. von Rudolf Bockholdt, Bd. 16). München 1997,
S. 155.
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