- 405 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (404)Nächste Seite (406) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

des Zuschauers, indem er jeden Charakter in seiner Glaubwürdigkeit zunächst bestätigt, im nächsten Moment jedoch wieder erschüttert. Keiner ist vollkommen unschuldig, verläßlich. Damit vermeidet er jegliche subjektive Erzählperspektive. Nach dem mißglückten Fluchtversuch Mirandas ist Paulinas Geduld am Ende, die Handlung geht ihrem Höhepunkt entgegen. Mirandas »Alibi« (Szene 36) bildet noch einmal ein retardierendes Element, bevor die Wahrheit endgültig ausgesprochen wird. Das Geständnis des Arztes am Klippenabgrund (Szene 37) bringt die Spannung auf ihren Höhepunkt, psychologisch gesehen erreichen sowohl die Charaktere als auch der Zuschauer einen moralischen Tiefpunkt, denn Mirandas Geständnis bringt die erschreckende Dimension zwischenmenschlicher Grausamkeit und sexueller Perversion ans Tageslicht. Auch die Ethik erreicht ihren Tiefpunkt, denn für Miranda ist der Geschmack des Bösen eine Berauschung, welche die Sinne des Menschen vollständig einnebelt. Anstatt Reue zu zeigen, trauert er den verlorenen Zeiten lediglich nach, »in denen man nicht nett sein mußte«. Damit versetzt er der Moral den endgültigen Todesstoß.

Mit dem abschließenden Epilog (Szene 38) fällt die Spannung, der dramaturgische Kreis schließt sich: Paulina, Gerardo und Miranda sitzen wieder im Schubert-Konzert – ein theatralischer Kunstgriff, der einem déjà vu nahekommt. Entsprechend der aristotelischen Tragödientheorie tritt nun die Katharsis ein, die »Reinigung von Jammer und Schaudern«. Diese betrifft nicht nur den Zuschauer, sondern auch die Charaktere dieser Tragödie. Besonders Paulina bot das zufällige Zusammentreffen mit ihrem ehemaligen Folterknecht eine Gelegenheit, sich von ihren aufgestauten Emotionen zu befreien und ihren Haß abzulegen. Das Geständnis bedeutete auch für Miranda einen Weg zur Selbsterkenntnis. Obwohl Polanski mit dieser Szene den Film inhaltlich wie formal schließt, bleibt dennoch eine Spur von Unzufriedenheit. Die Frage nach den Tätern der Militärdiktatur ist nach wie vor latent vorhanden, zumal diese sich – wie an Miranda und seiner Familie erkennbar – mit einer bürgerlichen Maske tarnen. Am Ende steht zumindest die Erfahrung, daß Opfer und Folterer zusammen in einem Land weiterleben werden und müssen, das »Wie« steht hingegen auf einem anderen Blatt.

13.3.  Franz Schubert: Streichquartett d-Moll D 810, Der Tod und das Mädchen, I. Satz Allegro

13.3.1.  Der musikalische Kontext des Zitats

Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen entstand im Jahre 1824, öffentlich uraufgeführt wurde es jedoch erst im Jahre 1833 in Berlin. Es ist eine der bekanntesten Kompositionen Schuberts. Dies spiegelt sich auch in mehreren Bearbeitungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wider, allen voran Mahlers Bearbeitung des gesamten Quartetts für Streichorchester und Cornelius’ Umwandlung des Themas des zweiten Satzes in das Chorlied Grablied. Pilger auf Erden.9

9 Michael Raab: Franz Schubert. Instrumentale Bearbeitungen eigener Lieder (= Studien zur Musik, hrsg. von Rudolf Bockholdt, Bd. 16). München 1997, S. 155.
Es ist

Erste Seite (i) Vorherige Seite (404)Nächste Seite (406) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 405 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik