- 404 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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mit der Paulina (Solo) auf die Radionachrichten reagiert, spiegelt bereits einen subtilen Protest und zurückgehaltene Aggressionen wider. Diese brechen erst während des Streits mit Gerardo hervor und offenbaren die Risse ihres Alltages. Paulina ist ein überlebendes Opfer der Folterungen durch die Militärdiktatur. Die Angst vor Entdeckung bestimmt ihren Alltag, ein Leben wie es die »bürgerlichen Idioten« (Paulina) führen, ist für beide nicht möglich.

Die erneute Ankunft (Szene 9 und 10) Mirandas bildet das für den Suspense erregende Element, als tragisches Element leitet es zugleich den Konfliktaufbau (Szene 11–36) zwischen den Figuren ein. Dabei folgt Polanski einer stringenten dramaturgischen Symmetrie, indem er in drei Phasen der Spannungssteigerung zwei Duetts jeweils ein Tutti folgen läßt. Paulina glaubt, an der Stimme Mirandas ihren früheren Folterknecht und Vergewaltiger wiederzuerkennen. Das freundschaftliche Gerede über die Kommission zwischen Gerardo und Miranda und ihr anschließendes Trinkgelage kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Spannungssteigerung ihren Anfang genommen hat. Paulina täuscht vor, Gerardo verlassen zu haben und flüchtet zunächst in Mirandas Wagen. Hier findet sie die für den weiteren dramaturgischen Verlauf so wichtige Kassette mit Schuberts Streichquartett. Die Relevanz dieses Werkes ist hier jedoch noch nicht einsichtig. Der Orchestersatz Wojciech Kilars bestimmt zunächst die Spannung der Szene 23, in der Paulina ihre Vorbereitungen trifft, um den schlafenden Miranda zu überwältigen. Die elegische Streichereinleitung und die in dissonanten Intervallen in sich kreisende Melodie der Flöte, die durch leise Klänge des Glockenspiels durchsetzt ist, entsprechen der trügerischen Nachtruhe im Hause der Escobars. Diese düstere Stimmung hat Kilar bereits in Coppolas Film Bram Stoker’s Dracula (USA 1992) auf ganz ähnliche Weise umgesetzt. Mit Sorgfalt fotografiert Polanski jedes Detail von Paulinas Bewegungen. Jeder zögerliche Schritt, mit dem sie sich dem schlafenden Miranda nähert, steigert das Thema entsprechend in Tempo und Dynamik. Auf dem Höhepunkt erkennt Paulina ihren früheren Folterer am Geruch, im gleichen Moment erwacht dieser und wird von ihr überwältigt. Das musikalische Thema bricht abrupt ab. Das nun folgende Duett zwischen Paulina und Miranda ist der Auftakt einer langen unerbittlichen Konfrontation zwischen den drei Charakteren, wobei der Zuschauer von einem psychologischen Abgrund in den nächsten gestoßen wird.

In dem darauffolgenden Tutti aller drei Charaktere werden die ersten Positionen deutlich: Paulina besteht unbeirrbar auf ihrer Anschuldigung Mirandas, auch wenn Gerardo sie der Paranoia bezichtigt. Miranda leugnet alles verzweifelt, Gerardo ist der mehr oder weniger hilflose und schwache Vermittler, der vergeblich versucht, Paulinas persönlicher Rache demokratisches Verständnis entgegenzusetzen. Als Miranda einen ersten Überwältigungsversuch unternimmt, ist Gerardo unfähig, zu handeln. Im Laufe der Auseinandersetzung (Szene 30 bis 36) verdichtet sich die Handlung zu einem undurchsichtigen Sumpf aus freigelegten Ängsten, Aggressionen, Machtspielen und gegenseitigen Anschuldigungen, die kontinuierlich von Drohgebärden und Gewalt überschattet werden. Mit fortschreitender Uhrzeit wird Paulinas Verlangen nach Rache zunehmend stärker, Mirandas Angriffslust ebenso wie Gerardos Furcht. Die Welt außerhalb des abgelegenen Hauses ist lediglich durch den Inhalt der Dialoge und später durch das Telefon präsent. Dadurch erscheint die Isolation jedes einzelnen umso stärker. Polanski spielt mit der Erwartungshaltung


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