- 399 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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drei Charaktere – Paulina und Gerardo Escobar sowie Dr. Roberto Miranda. Der innere Konflikt der Figuren steht im Mittelpunkt der Dramaturgie, wobei Polanski es vermeidet, das Geschehen ausschließlich aus Paulinas Perspektive darzustellen. Dadurch wird die Frage der Relativität von Wahrheit und Lüge kontinuierlich aufrecht erhalten. Der dramaturgische Konflikt erscheint gemäß des Kammerspiels auch hier zwanghaft und unentrinnbar. Dies fordert von den Darstellern eine geschärfte Betonung ihrer Schauspielkunst. Zudem hebt die Inszenierung die symbolische Bedeutung der Handlung hervor. Demnach splittet Polanski – anders als beim Theater – die Aktion im Sinne einer Découpage in einzelne Teile, die jeweils von der Kamera in separaten Aufnahmen festgehalten werden. Dabei spielen die Wahl des Kamerastandpunktes, Objektiv, Lichtwirkung und Einstellungsgrößen eine wichtige sinntragende Rolle. Polanski hält sich zudem an die Einheit von Ort und Zeit. Bis auf die Konzertszenen und die vergleichsweise kurzen Sequenzen vor dem Haus und am Klippenabgrund verlassen wir ähnlich wie in Bergmans Herbstsonate nie das Haus der Escobars.

In dieser filmischen Konstellation des Kammerspiels entspricht der Film dem Genre des Thrillers, genauer gesagt des Psychothrillers. Der Thrill wird hier durch die psychologische Odyssee der drei Charaktere erzeugt, wobei die Lösung der Schuldfrage bis zum bitteren Ende offen bleibt. Zentrales Element des Thrillers ist das Verbrechen, das jedoch nicht als negative Erfolgsgeschichte wie etwa im Gangsterfilm oder als deren Antithese (Detektivfilm) behandelt wird, sondern in den Alltag der Figuren wie zufällig eintritt.4

4 Rainer Rother: »Thriller.« In: Rainer Rother (Hrsg.): Sachlexikon Film. Reinbek 1997, S. 292.
Dieser hat jedoch bereits zu Beginn jene Sprünge, welche die Normalität des Alltags zur Brutstätte des Schreckens selbst werden lassen. So deutet der anfängliche Streit zwischen Paulina und Gerardo über die geplante Kommission sogleich auf jenen Konflikt, der später ausgetragen wird. Das Verbrechen dringt im weiteren Verlauf in Person Robert Mirandas in den nach der Militärdiktatur neustrukturierten Alltag der Escobars ein und offenbart eine neue, zugleich alte abgründige Seite der Charaktere, die von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt werden. Dieses Verbrechen gilt es nun aufzuklären. Zwar ist man als Zuschauer eher geneigt, dem Charakter Paulinas Sympathie und Glauben zu bekunden, doch verlagert Polanski die Perspektive des Films gleichmäßig auf alle Figuren. So entsteht jene Ambivalenz von Wahrheit und Lüge – der Zuschauer kann sich nie in einer sicheren Erkenntnis über die Schuldfrage wiegen. Wie Dorfman gelingt es auch Polanski, immer wieder neue Fragen aufzurollen und kontinuierlich Zweifel an der Identität von Opfer und Folterer aufkommen zu lassen. Dem Zuschauer offenbart sich auf diese Weise eine nahezu kafkaeske Rätselhaftigkeit, durch die er sich bis zum Schluß hindurchquälen muß. Dadurch schafft Polanski denn auch den für den Thriller so bezeichnenden Suspense. Dieser speist sich jedoch nicht im herkömmlichen Sinne aus dem Wissen als vielmehr aus dem Unwissen des Zuschauers, denn gegenüber den Hauptfiguren verfügt dieser eben nicht über mehr Informationen. Er weiß nicht, was geschehen wird – oder geschehen könnte. Ihn beschäftigt vielmehr kontinuierlich die Frage: Ist Miranda tatsächlich schuldig oder beruht alles lediglich auf einer Einbildung Paulinas? So findet sich der Zuschauer auf der Geschworenenbank wieder. Diese Ambivalenz von Realität und Wahnvorstellung, die uns bereits in Rosemaries Baby begegnete, durchdringt die

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