- 395 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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gesagt, innerhalb der Dramaturgie die Funktion der affirmativen physischen wie psychologischen Bildinterpretation.

Im Abspann wird die Arie ein letztes Mal zusammen mit allen übrigen Musiktiteln des Films in Form einer musikalischen Montage zitiert. Die Titel sind ganz unterschiedlicher Art; sie kennzeichnen die verschiedenen Figuren, Orte und Milieus, die wir in Atlantic City vorfinden14

14 Schmidt 1990, S. 238.
, aber zugleich entwerfen sie ein musikalisches Geschichtsbuch der Stadt aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft(sträumen). Mit nahezu jedem Aufprall der Abrißbirne erklingen einige Takte eines neuen Titels. Die Montage beginnt mit dem Jazz-Idiom der Dreißiger-Jahre-Bigbands, das Lou und Grace in den Hochzeiten des Seebades charakterisiert. Anschließend hören wir die reichhaltigen Koloraturen der Bellini-Arie, die – mittlerweile durch das Sehnsuchtsmotiv reichlich semantisiert – erkennen läßt, daß jene Zeiten des frühen Wohlstandes vorbei sind, den die Jazzmusik für Lou und Grace verkörpert. Mit dem nächsten Aufprall der Vorschlagkugel erklingt ein experimentell aggressiver Beebop im Stile Charly Parkers. Diese Jazzform, die im Jahre 1940 in Minton’s Playhouse in Harlem aufkam, charakterisiert auch hier noch immer das Straßenmilieu der Schwarzen in Atlantic City. Der Paul Anka-Song »Atlantic City, My Old Friend« illustriert den neuen Aufbruch der Stadt in die an Las Vegas orientierte Welt des Show-Business. Daran schließt sogleich ein Sound ähnlichen Charakters, der Song »On the Boardwalk of Atlantic City«. Er dient wie auch der Paul Anka-Song zur Charakterisierung der neuen Revue-Stimmung der Stadt. Darauf folgt die Rockmusik, ein Fingerzeig auf die Figur Daves. Als sozialgeschichtlich beschriftete Musik illustriert sie den Protest der Außenseiter-Jugend. Der amerikanische Blue Grass, eine Stilform der Country- und Western-Music, kennzeichnet die zahlreichen Fast Food-Buden der Stadt mit ihren grellen Neonlichtern. Der anschließende Cool Jazz, der Gegenpart zum vorher zitierten Bebop als Gegenrichtung weißer Jazzmusiker, charakterisiert das Milieu feudaler Kasinos und nobler Bars. Der nächste Aufprall der Abrißbirne führt uns kurzweilig in die fremde Welt des indischen Ashrams, eine musikalische Charakterisierung von Sallys drogensüchtiger Schwester Chrissie. Nachdem uns die Milieuschilderung des gesamten Films innerhalb weniger Momente noch einmal anhand der Musik vorgeführt wurde, endet der Abspann mit der Arie »Casta Diva«, die uns noch einmal vor Augen führt, daß Sallys Wunsch nach Bildung, Karriere und Luxus inmitten dieses heruntergekommenen Badeortes lediglich eine Illusion ist.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß Bellinis Norma-Arie »Casta Diva« den Film sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihren musikalischen Gestus semantisiert. Als solche charakterisiert sie den Traum der Fischverkäuferin Sally nach einem besseren Leben, der aus den Trümmern des american way of life aufsteigt. Ironischerweise verkehrt sich dabei das Bild des Europäers vom »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, indem Malle nur noch die Scherben des amerikanischen Traums präsentiert. »Alles, was ich in Amerika gemacht habe«, so äußert er sich in einem Interview, »war ein Kommentar meiner Beobachtungen des amerikanischen gesellschaftlichen Gewebes und wie es funktioniert. Besonders auf seiten der Leute, die nicht die Gewinner sind. Die Außenseiter, die Verlierer [. . . ]. Der Leute, die den amerikanischen Traum verwirklichen wollen, und das nicht schaffen.«15

15 Maerker 1985, S. 48–49.
Andererseits

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