- 394 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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anzubändeln. Verglichen mit der Feierlichkeit, die Sally beim Hören der Arie in der Eingangssequenz entwickelt, stellt sich ihre Herkunft im nachhinein als banal heraus. Sally versucht stets, den Annäherungsversuchen Josephs zu widerstehen. Zweifellos sieht sie in der Arie mehr als ein plumpes Mittel, die Hormone hochkochen zu lassen. Nach dem Kurs im Kasino wird Sallys Traum, der durch die Norma-Arie bisher immer nur in musikalischen Spuren angedeutet wurde, zum ersten Mal konkretisiert. Joseph spricht von den mondänen Kasinos in Monte Carlo wie von einer Verheißung. Mit der Lizenz als Kartendealerin stünde Sally die gesamte Welt offen. Die Karten seien ihre Zukunft, so ereifert sich Joseph. Dabei versucht er Sally davon zu überzeugen, daß einzig die französische Sprache als Aushängeschild von Kultiviertheit ihre Fahrkarte nach Europa sei. Sally, im guten Glauben an eine bessere Zukunft, hält seine Worte für das Evangelium und sieht in dem öligen Croupier die lebendige Verkörperung europäisch-französischer Bildung. Dabei bemerkt sie nicht, daß sie es mit einem heruntergekommenen Aufschneider zu tun hat. Ein Hochstapler, der ihr eine gewisse Professionalität vorgaukelt, um sich an sie heranzumachen. Damit bestätigt sich die vorhergehende Szene auf der Strandpromenade: auch wenn wir die Arie in dieser Sequenz nicht hören, so wird deutlich, daß Sally mit dieser Musik und dem Erlernen der französischen Sprache den Traum von einem besseren Leben in Europa verbindet. Die Kassetten, die Joseph ihr geschenkt hat, versteht sie als Mittel, sich kulturell zu bilden, wobei sie in dem leicht schmierigen Croupier ihren Mentor sieht. Die Ironie dieser Szene liegt in der Tatsache, daß Joseph von ganz anderen Motiven getrieben wird. Insofern stellt sich Sallys Traum – und damit auch die Musik Bellinis – in diesem von Geld und Macht bestimmten banalen Alltag erneut als eine verlorene Sehnsucht heraus.

Mittlerweile haben weitere Ereignisse Sallys Leben in Unordnung gebracht, ihre Ambition auf ein besseres Leben wird einem Härtetest unterzogen. Dave wurde ermordet, Sally mußte seine Leiche im Krankenhaus identifizieren. Auf die routinierte Frage des Polizisten, ob sie plane, die Stadt zu verlassen, antwortet sie mit existentialistischem Nachdruck: »Ich will’s zu ’was bringen! Ich kann diese Stadt gut leiden. Ich will Kartendealer werden, und Atlantic City ist für mich das größte!« Nachdem Sally sich im Treppenhaus von Lou verabschiedet hat, hören wir die Arie »Casta Diva« ein drittes Mal. Zu den Worten »bis sie jenen Frieden fanden« reibt sie sich – erneut von Lou beobachtet – mit Zitronensaft ein. Dieses Mal ist die Kamera aus ihrer Perspektive auf die Wohnung von Lou gerichtet. Für ihn ist sie nun in erreichbare Nähe gerückt. Ihr abendlicher Ritus hat, wie sich später herausstellt, einen recht banalen Grund – Sally ist der Fischgeruch peinlich. Auf diese Weise wird die anmutige Feierlichkeit der ersten Szene durch die dramaturgischen Enthüllungen und Verwicklungen nach und nach entblättert. Die anfängliche Entspannung der Arie weicht zunehmend der Konfusion der Oberflächlichkeit des Alltags. Sally lebt in einer banalen Gesellschaft, die im »Geldmachen« ihr einziges Ziel sieht. Die Gegenwart ist hektisch, Momente der Ruhe fallen umso stärker auf. In der Zurückgezogenheit ihrer Wohnung wäscht sie sich jeden Abend die rastlose Banalität des Alltags mit Zitronensaft und der Norma-Arie vom Leib und läßt für kurze Momente den Schein des sich verwirklichenden Traumes aufleuchten. Norma als Beruhigungsmusik und als Projektion ihres Wunschtraumes – die Funktionen der Arie werden in dieser Szene vollständig eingelöst. Insofern erfüllt sie, wie bereits


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