- 393 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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er erbittet von Dionysos die Gabe, alles Berührte in Gold zu verwandeln. Auch Sally ist – wie jeder in Atlantic City – von dem Wunsch besessen, alle Dinge in Geld zu verwandeln. Zugleich distanziert sie sich damit von Dave, der sich mittels des Kokains all seiner Geldsorgen auf einen Schlag entledigen will. Wenn sie dann noch zusätzlich den Vergleich mit Midas in umgekehrter Bedeutung heranzieht, so sagt sie bereits das weitere Geschehen voraus, ohne es zu wissen. Bei dem Versuch, das Kokain zu verkaufen, wird Dave ermordet. Wenn Sally später zu Lou sagt, Dave sei »ein Stück Dreck« gewesen, so ist dies die unfreiwillige Ergänzung zu der Midas-Geschichte: alles, was Dave anfaßte, wurde zu Dreck.

So wie die Musik als gesellschaftlich-kulturelle Abgrenzung zu Dave fungierte, so dient sie im weiteren Verlauf der Szene dem gleichen Zweck in bezug auf Chrissies Weltanschauung. Während diese mit der größten Selbstverständlichkeit der entsetzten Sally die wiedergeborene höher entwickelte Seele von Dave erläutert, der Sally ein paar Minuten zuvor das Portemonnaie aus der Handtasche geklaut hat, packt diese demonstrativ den Recorder in ihre Handtasche. Sie nimmt ihre Welt, die durch die beiden Eindringlinge gestört ist, mit sich nach draußen. Insofern tritt hier ebenso wieder die Funktion als Beruhigungsmusik in Erscheinung, was Sally sich zudem selbst einzutrichtern versucht, als sie die Treppe hinunterläuft (»Ich werd’ mich deswegen nicht aufregen. . . «). Während sie gehetzt auf der Promenade entlangrennt, spielt der Recorder noch immer laut in ihrer Tasche, so daß Lou auf sie aufmerksam wird. Inmitten der geschäftigen Hektik auf der Strandpromenade erscheint der kolorierte rhythmisch gemäßigte Gesang der Sopranistin jedoch mehr als unpassend. Mit dieser kontrapunktischen Anordnung der Musik wird zum ersten Mal deutlich, daß sie innerhalb des Filmgeschehens in dritter Instanz für einen sehnsüchtigen Wunschraum Sallys in einer weniger diffusen, sich durchsetzenden Realität steht, der hier jedoch noch nicht eindeutig definiert ist. Was sich während der Konfrontation der beiden Kulturen im Streit zwischen Sally und Dave angedeutet hat, wird hier eingelöst. In dieser kurzen Promenadenszene illustriert Malle die Fremdheit dieser feinsinnigen Kulturreminiszens, die hier weder tragisch noch melancholisch ausfällt, sondern schlicht und ergreifend verloren ist inmitten dieser hektischen Alltagswelt. Hier, in der Reichweite der oberflächlichen Kasino-Songs, die nur der Unterhaltung der zahlenden Kunden dienen sollen, ist die Musik mehr als deplaziert. Insofern suggeriert Malle dem Zuschauer anhand dieser verschlüsselten musikalischen Botschaft bereits an dieser Stelle, daß Sallys Wünsche eine verlorene Sehnsucht bleiben – »so sehr verloren, daß Malle nur noch [mittels der Musik] ihre Spuren auslegen kann.«13

13 Vogt 1990, S. 243.

In einer der folgenden Szenen wird die »Herkunft« der Norma-Arie erklärt. Sally hat sie von Joseph bekommen, dem halbseidenen Croupier, der in der »Würde, Begierde und der Zuneigung« der Norma lediglich einen Versuch sieht, mit Sally


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