- 392 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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signalisiert er ihr, daß sie zum einen aus dem gleichen gesellschaftlichen Milieu stammen, zum anderen erwartet er von ihr eine gewisse Dankbarkeit, die sich in klingender Münze zeigen soll. Trotz massenmedialer Vereinheitlichung stehen die beiden »sich duellierenden« Musikgenres für zwei völlig unterschiedliche Kulturen innerhalb der gleichen gesellschaftlichen Realität. Sally ist gerade wegen ihrer Herkunft darum bemüht, sich eine Karriere als Croupier aufzubauen. Sie träumt von einer Laufbahn wie sie »die kleine [Grace] Kelly aus Philadelphia« verwirklicht hat: von Amerika ins feudal exotische Monaco. Sie erhofft sich eine Existenz mit einem gewissen gepflegten Lebensstandard. Dies illustriert sie mit deutlichen Bildungssymbolen wie Büchern und klassischer Musik. Damit bemüht sie sich auch in dieser Szene, sich deutlich von Dave abzuheben. Später erklärt sie Lou im Restaurant mit enthusiastischer Naivität ihre Lebenspläne: »Dort [in Monaco] gibt’s auch ein Kasino. Wahnsinnig elegant. Leider noch keine Frauen als Croupiers. Na ja, und jetzt befasse ich mich intensiv mit Musik. Ich fange auch an mit Bücherlesen, ich will meinen eigenen Stil entwickeln. Ich lerne Sprachen und ich möchte mal richtig auf Reisen gehen.« Wenn sie erst einmal Herrin über Roulette und Black Jack geworden ist, will sie sich bis nach Monte Carlo durchschlagen. Insofern dient die Musik hier als Bildungssymbol, als solches in letzter Instanz als affirmativ psychologische Charakterisierung von Sally.11
11 In diesem Zusammenhang könnte man die Bedeutung der Arie auch in Richtung des »Spiegels von Charakteren« rücken (vgl. Kap. 10), jedoch mit dem Unterschied, daß die Musik auf der symbolischen Ebene stehenbleibt und Sallys Charakter nicht die psychologische Tiefendimension verleiht wie Chopins Prélude der Mutter-Tochter-Beziehung in Bergmans Herbstsonate. Indem Sally Bellinis Arie als Bildungssymbol benutzt, illustriert Malle musikalisch ein Phänomen, das über ihre Figur hinausgeht, nämlich eine andere Kultur. In diesem Zusammenhang möchte Sally als deren Repräsentantin gelten. Als solche ist sie dramaturgisch gesehen lediglich »ein Mittel zum Zweck«, denn durch ihre musikalisch illustrierte Sehnsucht gibt der Regisseur den Hinweis auf eine andere, europäische, Kultur, die im krassen Widerspruch zu seinem filmischen Stadtporträt steht. Darüber hinaus fungiert die Arie durch Sallys Bildungsanspruch entfernt auch im Sinne eines sozialen Indexes. Da sich dieser jedoch lediglich in Sallys Sehnsucht manifestiert und nicht – wie in Lacombe, Lucien oder Mein Vater, mein Herr – den filmischen Fakten entspricht, haben wir es hier in erster Linie mit der semantischen Ebene der kulturellen Identität zu tun.
Daves Musikgeschmack illustriert dagegen den gesellschaftlichen Protest ohne irgendeine Form von Anpassung. Auf diese Weise illustriert er seine Zugehörigkeit zur jugendlichen Subkultur, für die die Rockmusik ein Indiz ist.12
12 In dem Film Die Brücken am Fluß (USA 1995) von Clint Eastwood gibt es eine ähnliche Szene: die Farmersfrau Francesca (Meryl Streep) ruft ihre Familie zum Abendessen in die Küche. Aus dem Radio erklingt die besagte Arie »Casta Diva«. Die junge Tochter kommt herein, geht wortlos zu dem Gerät und stellt mit einem kurzen Handgriff die Frequenz um auf den Song »Leader of the Pack« von den Shangri-Las aus dem Jahre 1964/65, als solcher musikalischer Inbegriff der protestierenden Jugendbewegung der sechziger Jahre. Doch im Gegensatz zu Sally erhebt Francesca lediglich mit einem stummen Blick Einwand. Auch während des folgenden Songs »Baby, I’m Yours« von Van McCoy kann sie lediglich mit stummer Mimik ihrer Unbehaglichkeit über ihren Alltag Ausdruck verleihen. Auch in dieser Szene, die beinahe wie eine bewußte Anspielung auf ihr Pendant in Atlantic City, U.S.A. wirkt, übernimmt Bellinis Arie die Rolle der kulturellen Identität. Beide Protagonistinnen – Sally und Francesca – stehen nach Jahren vor den Scherben des amerikanischen Traums. Francesca, die vor Jahren ihre Heimat Italien verließ, muß nun feststellen, daß das Leben einer Farmersfrau in Iowa nicht ihren Erwartungen entspricht. Wie Sally sieht sie in der Arie ein seelisches Refugium, in dem sie ihren Sehnsüchten nach Europa freien Lauf lassen kann. Im Gegensatz zu Malles Film verdeutlicht die Arie hier ein zusätzliches – wenn auch recht plakatives – Lokalkolorit, denn als Italienerin fühlt sich Francesca in der Welt der Oper zu Hause. Sie ist das einzige Kulturgut, das ihr in der Weite der amerikanischen Einöde ein leises Gefühl von Heimat vermittelt. Bezeichnenderweise erklingt die Arie nicht mehr, nachdem sie den Fotografen Robert (Clint Eastwood) kennengelernt hat. Dieser wird durch diverse Bluessongs bezeichnend charakterisiert – er ist ein Außenseiter der Gesellschaft, der gegen bürgerliche Normen rebelliert. Durch ihn wird Francesca kurzweilig ebenfalls zur »Rebellin«, indem sie sich für vier Tage ihren Traum von einem anderen Leben erfüllt.
Zum anderen gibt die Figur des König Midas Aufschluß:

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