signalisiert er ihr, daß sie zum einen aus dem gleichen gesellschaftlichen Milieu
stammen, zum anderen erwartet er von ihr eine gewisse Dankbarkeit, die sich in
klingender Münze zeigen soll. Trotz massenmedialer Vereinheitlichung stehen
die beiden »sich duellierenden« Musikgenres für zwei völlig unterschiedliche
Kulturen innerhalb der gleichen gesellschaftlichen Realität. Sally ist gerade wegen
ihrer Herkunft darum bemüht, sich eine Karriere als Croupier aufzubauen. Sie
träumt von einer Laufbahn wie sie »die kleine [Grace] Kelly aus Philadelphia«
verwirklicht hat: von Amerika ins feudal exotische Monaco. Sie erhofft sich eine
Existenz mit einem gewissen gepflegten Lebensstandard. Dies illustriert sie mit
deutlichen Bildungssymbolen wie Büchern und klassischer Musik. Damit bemüht sie
sich auch in dieser Szene, sich deutlich von Dave abzuheben. Später erklärt sie
Lou im Restaurant mit enthusiastischer Naivität ihre Lebenspläne: »Dort [in
Monaco] gibt’s auch ein Kasino. Wahnsinnig elegant. Leider noch keine Frauen
als Croupiers. Na ja, und jetzt befasse ich mich intensiv mit Musik. Ich fange
auch an mit Bücherlesen, ich will meinen eigenen Stil entwickeln. Ich lerne
Sprachen und ich möchte mal richtig auf Reisen gehen.« Wenn sie erst einmal
Herrin über Roulette und Black Jack geworden ist, will sie sich bis nach Monte
Carlo durchschlagen. Insofern dient die Musik hier als Bildungssymbol, als
solches in letzter Instanz als affirmativ psychologische Charakterisierung von
Sally.11
11 In diesem Zusammenhang könnte man die Bedeutung der Arie auch in Richtung des
»Spiegels von Charakteren« rücken (vgl. Kap. 10), jedoch mit dem Unterschied,
daß die Musik auf der symbolischen Ebene stehenbleibt und Sallys Charakter
nicht die psychologische Tiefendimension verleiht wie Chopins Prélude der
Mutter-Tochter-Beziehung in Bergmans Herbstsonate. Indem Sally Bellinis Arie als
Bildungssymbol benutzt, illustriert Malle musikalisch ein Phänomen, das über ihre Figur
hinausgeht, nämlich eine andere Kultur. In diesem Zusammenhang möchte Sally als
deren Repräsentantin gelten. Als solche ist sie dramaturgisch gesehen lediglich »ein
Mittel zum Zweck«, denn durch ihre musikalisch illustrierte Sehnsucht gibt der Regisseur
den Hinweis auf eine andere, europäische, Kultur, die im krassen Widerspruch zu seinem
filmischen Stadtporträt steht. Darüber hinaus fungiert die Arie durch Sallys
Bildungsanspruch entfernt auch im Sinne eines sozialen Indexes. Da sich dieser jedoch
lediglich in Sallys Sehnsucht manifestiert und nicht – wie in Lacombe, Lucien
oder Mein Vater, mein Herr – den filmischen Fakten entspricht, haben wir es
hier in erster Linie mit der semantischen Ebene der kulturellen Identität zu
tun.
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Daves Musikgeschmack illustriert dagegen den gesellschaftlichen Protest
ohne irgendeine Form von Anpassung. Auf diese Weise illustriert er seine
Zugehörigkeit zur jugendlichen Subkultur, für die die Rockmusik ein Indiz
ist.12
12 In dem Film Die Brücken am Fluß (USA 1995) von Clint Eastwood gibt es eine
ähnliche Szene: die Farmersfrau Francesca (Meryl Streep) ruft ihre Familie zum
Abendessen in die Küche. Aus dem Radio erklingt die besagte Arie »Casta Diva«. Die
junge Tochter kommt herein, geht wortlos zu dem Gerät und stellt mit einem
kurzen Handgriff die Frequenz um auf den Song »Leader of the Pack« von
den Shangri-Las aus dem Jahre 1964/65, als solcher musikalischer Inbegriff
der protestierenden Jugendbewegung der sechziger Jahre. Doch im Gegensatz
zu Sally erhebt Francesca lediglich mit einem stummen Blick Einwand. Auch
während des folgenden Songs »Baby, I’m Yours« von Van McCoy kann sie
lediglich mit stummer Mimik ihrer Unbehaglichkeit über ihren Alltag Ausdruck
verleihen. Auch in dieser Szene, die beinahe wie eine bewußte Anspielung auf ihr
Pendant in Atlantic City, U.S.A. wirkt, übernimmt Bellinis Arie die Rolle der
kulturellen Identität. Beide Protagonistinnen – Sally und Francesca – stehen
nach Jahren vor den Scherben des amerikanischen Traums. Francesca, die vor
Jahren ihre Heimat Italien verließ, muß nun feststellen, daß das Leben einer
Farmersfrau in Iowa nicht ihren Erwartungen entspricht. Wie Sally sieht sie in der
Arie ein seelisches Refugium, in dem sie ihren Sehnsüchten nach Europa freien
Lauf lassen kann. Im Gegensatz zu Malles Film verdeutlicht die Arie hier ein
zusätzliches – wenn auch recht plakatives – Lokalkolorit, denn als Italienerin fühlt sich
Francesca in der Welt der Oper zu Hause. Sie ist das einzige Kulturgut, das ihr in
der Weite der amerikanischen Einöde ein leises Gefühl von Heimat vermittelt.
Bezeichnenderweise erklingt die Arie nicht mehr, nachdem sie den Fotografen
Robert (Clint Eastwood) kennengelernt hat. Dieser wird durch diverse Bluessongs
bezeichnend charakterisiert – er ist ein Außenseiter der Gesellschaft, der gegen
bürgerliche Normen rebelliert. Durch ihn wird Francesca kurzweilig ebenfalls zur
»Rebellin«, indem sie sich für vier Tage ihren Traum von einem anderen Leben
erfüllt.
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Zum anderen gibt die Figur des König Midas Aufschluß:
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