- 391 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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entlarvt der Regisseur ebenso den Zuschauer, sich der Verführung durch Bellinis romantische Elegie hingegeben zu haben, aus der er nun unsanft herausgerissen wird. Insofern schafft Malle sowohl durch den Inhalt der Arie als auch durch den musikalische Gestus einen Bezug zur Dramaturgie. Als aktuelle Musik erhält sie in dieser Szene eine zentrale Eigenständigkeit. Indem sie Sallys physisches wie offenbar auch psychisches Wohlergehen affirmativ spiegelt, kommt sie der mood-technique sehr nahe. Zugleich entspricht sie im Sinne einer Bildillustration den gedämpften Licht- und Raumwirkungen der Szene.

Während die Musik in dieser ersten Szene also deutlich illustriert, daß Sally anscheinend mit sich und der Welt im Einklang ist, wird der Zuschauer nun eines besseren belehrt. Die Welt um sie herum ist voller Konflikte, die Menschen sind boshaft und unzufrieden. Dies demonstrieren zunächst Lou und Grace. Umgeben von kitschigem Nippes liegt Grace wie ein platinblondes Dornröschen mäkelnd in ihrem rosa Bett und demütigt Lou mit spitzer Zunge wegen seiner finanziellen Abhängigkeit von ihr. Als dieser sich resignierend auf ihre Bettkante setzt und Grace plötzlich mit sanfter Stimme den absurden Wunsch nach durchsichtigen Absätzen äußert, in denen lebende Goldfische schwimmen, dringen aus Sallys Wohnung die letzten Takte der Streicher-Einleitung der Arie sowie der Auftakt des Gesangs herunter. Lou beruhigt sich nach dem abflauenden Zank und hebt sinnig horchend den Blick zur Decke. In diesem Moment erfolgt der Schnitt, die »Diva« steht nervös am Herd und verbrüht sich gerade ihre Finger an der heißen Teekanne. Mißmutig wirft sie den Topflappen in die Spüle und hantiert hektisch mit einem Teebeutel herum. Hier wird eine neue Bedeutung der Musik für Sally offenbar. Dave und Chrissie stören sie in ihrem Leben. Sie nisten sich wie selbstverständlich bei ihr häuslich ein und verbreiten eine Hektik, die sich ganz offensichtlich auf Sallys Gemüt auswirkt. Dagegen bildet die Musik einen in sich ruhenden Kontrapunkt. Hier wird offenbar, daß Bellinis Arie für Sally eine Beruhigungsmusik darstellt, ein therapeutisches Refugium inmitten ihres rastlosen Alltags. Der Streit zwischen Lou und Grace wird nun ein Stockwerk höher fortgesetzt und zwar in Form eines »musikalischen Duells«. Dave, den dieser Ton aus einer »anderen Welt« offenbar irritiert, geht an den Kassettenrecorder und drückt die besänftigende Melodie demonstrativ um auf eine harte unsensible Rockmusik. An dieser Stelle setzt Malle einen weiteren musikalisch funktionalen Wink: Sally stellt sofort »ihre Musik« wieder an mit der Bemerkung: »Du bist wie König Midas, nur anders ’rum. Laß’ mein Zeug in Ruhe!« Der Sinn dieser Bemerkung, so erläutert auch Vogt10

10 Vogt 1990, S. 242.
, ist aufschlußreich für das subtile Spiel der ausgelegten Spuren. Zum einen ist diese Bemerkung ein Zeichen dafür, daß Sally etwas über diese Gestalt der griechischen Mythologie gelesen und sich gemerkt haben muß. Sie kehrt eine gewisse Bildung heraus, um sich in diesem Moment von dem schmierigen Dave gesellschaftlich abzuheben. Die Arie der »Casta Diva« versteht Sally neben ihrer beruhigenden Funktion auch als eine Art karriereförderndes Bildungsgut. Dies wird im weiteren dramaturgischen Verlauf offenbarer. Der musikalische Aufeinanderprall von Bellinis »Casta Diva« mit der harten Rockmusik spiegelt den Streit zwischen Sally und Dave auf der auditiven Ebene raffiniert wider. Mit der provozierenden Bemerkung »Wer hat dich aus dem dreckigen Saskatchewan herausgeholt?!« stellt Dave wieder die Rockmusik an. Damit

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