- 384 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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seine dionysische Freiheit wiedergewonnen, die er nun im legitimen Rahmen der Regierung ausleben kann. Die Orchesterfassung demonstriert dies. In Alex’ Vision greift Kubrick auf die Bedeutung der Farben zurück. Das Weiß des Schnees assoziiert das Gesetz und die Ordnung, unter der er seinen dionysischen Trieben nun nachgehen kann. Eine vornehme Gesellschaft erweist sich dabei als voyeuristisch, während Alex wieder zum Aktionskünstler wird. Für seine Performance erntet er dieses Mal den Beifall der »vornehmen« Gesellschaft, in deren Kreise er immer aufsteigen wollte. Doch funktionsanalytisch erstellt Kubrick in der Schlußszene einen sarkastischen Kontrapunkt zwischen dem Jubelgesang und der Verbrüderung zwischen Alex und dem Minister. Alex ist am Ende seiner »Passion« angekommen. Repräsentierte er zunächst den dionysischen Außenseiter, der sich lediglich seinem Lustprinzip folgend gegen die Gesellschaft anarchistisch auflehnt und dann zum Opfer einer grausamen Gesellschaft wird, gehört er nun diesem »Bund der Brüder« an. Doch bereits in der vorhergehenden Szene wurde die Kälte und letztlich die Brutalität dieser Gesellschaft in der Person des Dr. Brodsky charakterisiert. Während Alex’ böse Taten zu Anfang des Films in der rein körperlichen Gewalt ihren Ausdruck finden, ist die Gewalt der Gesellschaft im Grunde viel brutaler und perverser, da sie ihren scheinbar moralischen Duktus als Machtmittel mißbraucht, um Menschen wie Alex psychologisch erbarmungslos zu manipulieren und ihnen ihre Individualität zu rauben. Da Alex eine Gefahr für die Regierung darstellt, wird er in den Bund aufgenommen. Doch dieser so scheinbar humanistischen Geste steht der kompromißlose Ausschluß derer gegenüber, die den »Enthusiasmus der Brüder« nicht teilen. So wird beispielsweise der Schriftsteller Mr. Alexander, der im dritten Teil als Doppelgänger von Alex’ dionysischer Natur auftritt, von der Regierung »beseitigt«. Die Verlogenheit der Gesellschaft manifestiert sich in der Schlußszene ganz eindeutig in der Person des Ministers: sein scheinbar so treuer Augenaufschlag Alex gegenüber (seiner eigenen Rettung wegen) und seine krampfhaften Gesten der Verbrüderung mit Alex sind Zeichen einer grundlegenden Verlogenheit unter dem Deckmantel der Moral. Der Wunsch nach Verbrüderung aller Menschen wird zu einer stilisierten Show im Blitzgewitter der Fotografen, um die Bevölkerung im Namen des moralischen Imperativ letztlich zu täuschen. Die Ode Schillers deutet es bereits an: der Bund gründet sich auf die Freiheit seiner Mitglieder. Alex kann seinem freiheitlichen Lustprinzip nun mit gesellschaftlicher Legitimation nachgehen, der freie Wille bedeutet der Wille zur Gewalt. Das moralische Gedankengut der Aufklärung wird in einer solchen Gesellschaft mit Füßen getreten und als Machtmittel mißbraucht, um die Gesellschaft schrittweise zu verbessern. Damit widerlegt Kubrick durch die Dramaturgie des Films, was die Geschichte bereits zur Zeit Beethovens widerlegt hat. Die Idee der allumfassenden Brüderlichkeit und des moralischen Perfektionismus ist nicht zu verwirklichen, der Enthusiasmus der Schlußszene ist ebenso trügerisch wie Beethovens Finale. Doch im Gegensatz zu Beethovens »Ideenkunstwerk« sind bei Kubrick jene humanistischen Ideale noch nicht einmal mehr im Kunstwerk zu verwirklichen, denn Beethovens Neunte wird zur ars utile der moralischen Verbesserung des Menschen im Namen der Gewalt.

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