11.2.6. Zusammenfassung
Somit hat sich auch an Uhrwerk Orange die These Schmidts bestätigt. Die grazile
Motorik der Diebischen Elster paraphrasiert die Schlägerei am Spielkasino gleichermaßen
wie sie von ihr zu einer ästhetischen Performance umfunktionalisiert wird, um ihr den
Schrecken der Gewalttätigkeit zu nehmen. Besonders aber im Falle der Neunten
Beethovens funktionalisiert Kubrick eindeutig das Klischee, denn die Hymne an die
Freude erfreut sich auch heute noch blinder Verehrung und muß bei vielen Anlässen als
moralische Stütze herhalten. Wo immer völkerverbindende nationale Feierlichkeiten auf
dem Programm stehen, ist die Neunte nicht weit. So wird sie stets gleichsam einem
Fetisch auf ein Podest erhoben und dem kritischen Zugriff entzogen. Doch zeigt diese
blinde Verehrung bereits, wie sehr Musik und Gesellschaft ineinander verzahnt sind.
Kubrick nutzt dieses »Image«. Alex bekommt seine Freiheit, er wird zu einem aktiven
Mitglied der Gesellschaft, das ist für ihn die »Freude der Götterfunken«. Doch in
welcher Gesellschaft bekommt er seine Freiheit, was bedeutet letztlich seine
Freiheit? Hier setzt die Neusemantisierung an, denn Kubrick funktionalisiert jenes
Klischee, indem er mit der Hymne an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
eine Gesellschaft preist, die jene Ideale mit Füßen tritt und die Aussicht ihrer
Verwirklichung als vergeblich entlarvt. Doch im Grunde handelt es sich nicht um
eine absolute Neusemantisierung, denn diese Ideale hat Beethoven lediglich im
Kunstwerk verwirklicht – und dies in einer Zeit, in der humanistische Ideale
durch Politiker wie Metternich bereits in der Realität hinreichend widerlegt
worden waren. Somit hat er bereits den Grundstein für dieses Mißverständnis
selbst gelegt. Nach drei instrumentalen Sätzen erhebt er im vierten Satz eine
vollkommen andere Welt, eine Welt der Ideale. Doch über der Freiheit der
Brüder thront das metaphysische Prinzip: »Such’ ihn überm Sternenzelt, über
Sternen muß er wohnen.« Die Verwirklichung dieses Menschheitsgesangs ist in der
Neunten über Sternen entrückt. Es ist, als ob das, was an der Befreiung des
Menschen hier und jetzt fehlt, durch überlaute Bestätigung, es sei doch so,
sich immer wie er vorgesagt werden müßte. Aus diesem Grunde bezeichnet die
Neunte Beethovens auch einen Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte, denn die
Plakathaftigkeit wird als ganzes geglaubt, obwohl ihr affirmativer und zugleich
überredender Charakter im Finale mißtrauisch machen müßte. Er weist im Grunde
darauf hin, daß die Wechselbeziehung zwischen Gemeintem und Erscheinendem
zu hören ist. Die Sinfonie offenbart eine utopische Ideologie, die auch in der
Zukunft, in der Kubricks Film spielt, eine reine Utopie bleiben wird. Doch wertet
Kubrick nicht. Als Anhänger des Ästhetizismus begreift er die Dialektik des
Stillstandes als ästhetisches Prinzip. Der Film endet an dem Punkt, wo Logos
(Gesellschaft) und Mythos (Alex) sich gegenseitig bedingen. Das Ergebnis ist
die Freiheit des Menschen, die jedoch Gewaltbereitschaft verheißt. Kubrick
bemüht sich lediglich um eine Darstellung. An keiner Stelle ist eine Wertung
zu erkennen, denn Opfer der Gesellschaft werden gleichzeitig zu Tätern, die
Ambivalenz der Sympathie bleibt stets erhalten. Damit handelt es sich um eine
Art von Neusemantisierung, die nicht die Tatsachen »verfälscht«, sondern das
verfälschte Klischee eines Appells zu perfekter Humanität berichtigt, indem er es
funktionalisiert. Damit entspricht er Adornos Forderung »Keine Klischees mehr!« Da
jedoch viele Rezipienten bis heute in der Neunten den Aufruf zur Humanität
schlechthin sehen und dabei die Tatsache übersehen, daß
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