- 385 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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11.2.6.  Zusammenfassung

Somit hat sich auch an Uhrwerk Orange die These Schmidts bestätigt. Die grazile Motorik der Diebischen Elster paraphrasiert die Schlägerei am Spielkasino gleichermaßen wie sie von ihr zu einer ästhetischen Performance umfunktionalisiert wird, um ihr den Schrecken der Gewalttätigkeit zu nehmen. Besonders aber im Falle der Neunten Beethovens funktionalisiert Kubrick eindeutig das Klischee, denn die Hymne an die Freude erfreut sich auch heute noch blinder Verehrung und muß bei vielen Anlässen als moralische Stütze herhalten. Wo immer völkerverbindende nationale Feierlichkeiten auf dem Programm stehen, ist die Neunte nicht weit. So wird sie stets gleichsam einem Fetisch auf ein Podest erhoben und dem kritischen Zugriff entzogen. Doch zeigt diese blinde Verehrung bereits, wie sehr Musik und Gesellschaft ineinander verzahnt sind. Kubrick nutzt dieses »Image«. Alex bekommt seine Freiheit, er wird zu einem aktiven Mitglied der Gesellschaft, das ist für ihn die »Freude der Götterfunken«. Doch in welcher Gesellschaft bekommt er seine Freiheit, was bedeutet letztlich seine Freiheit? Hier setzt die Neusemantisierung an, denn Kubrick funktionalisiert jenes Klischee, indem er mit der Hymne an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine Gesellschaft preist, die jene Ideale mit Füßen tritt und die Aussicht ihrer Verwirklichung als vergeblich entlarvt. Doch im Grunde handelt es sich nicht um eine absolute Neusemantisierung, denn diese Ideale hat Beethoven lediglich im Kunstwerk verwirklicht – und dies in einer Zeit, in der humanistische Ideale durch Politiker wie Metternich bereits in der Realität hinreichend widerlegt worden waren. Somit hat er bereits den Grundstein für dieses Mißverständnis selbst gelegt. Nach drei instrumentalen Sätzen erhebt er im vierten Satz eine vollkommen andere Welt, eine Welt der Ideale. Doch über der Freiheit der Brüder thront das metaphysische Prinzip: »Such’ ihn überm Sternenzelt, über Sternen muß er wohnen.« Die Verwirklichung dieses Menschheitsgesangs ist in der Neunten über Sternen entrückt. Es ist, als ob das, was an der Befreiung des Menschen hier und jetzt fehlt, durch überlaute Bestätigung, es sei doch so, sich immer wie er vorgesagt werden müßte. Aus diesem Grunde bezeichnet die Neunte Beethovens auch einen Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte, denn die Plakathaftigkeit wird als ganzes geglaubt, obwohl ihr affirmativer und zugleich überredender Charakter im Finale mißtrauisch machen müßte. Er weist im Grunde darauf hin, daß die Wechselbeziehung zwischen Gemeintem und Erscheinendem zu hören ist. Die Sinfonie offenbart eine utopische Ideologie, die auch in der Zukunft, in der Kubricks Film spielt, eine reine Utopie bleiben wird. Doch wertet Kubrick nicht. Als Anhänger des Ästhetizismus begreift er die Dialektik des Stillstandes als ästhetisches Prinzip. Der Film endet an dem Punkt, wo Logos (Gesellschaft) und Mythos (Alex) sich gegenseitig bedingen. Das Ergebnis ist die Freiheit des Menschen, die jedoch Gewaltbereitschaft verheißt. Kubrick bemüht sich lediglich um eine Darstellung. An keiner Stelle ist eine Wertung zu erkennen, denn Opfer der Gesellschaft werden gleichzeitig zu Tätern, die Ambivalenz der Sympathie bleibt stets erhalten. Damit handelt es sich um eine Art von Neusemantisierung, die nicht die Tatsachen »verfälscht«, sondern das verfälschte Klischee eines Appells zu perfekter Humanität berichtigt, indem er es funktionalisiert. Damit entspricht er Adornos Forderung »Keine Klischees mehr!« Da jedoch viele Rezipienten bis heute in der Neunten den Aufruf zur Humanität schlechthin sehen und dabei die Tatsache übersehen, daß


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