- 383 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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sich in der letzten Szene auflösen wird. Die Szene endet mit dem Ausklang des Satzes.

5. Sequenz: Alex’ Heilung/Vision

Der Innenminister, durch Alex’ Selbstmordversuch öffentlich unter Druck geraten, besucht ihn im Krankenhaus. Er bietet ihm einen gut bezahlten Posten in der Regierung an. Als Alex ihm andeutet, daß er mit dem Minister kooperieren will, um diesen vor einem möglichen politischen Sturz zu bewahren, bereitet dieser ihm eine Überraschung. Das Prestissimo-Finale des vierten Satzes setzt mit der drängenden Überleitung der Streicher ein.145

145 Vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.3.5
Der Einsatz ist durch die Ankündigung der Überraschung motiviert. Zu den Worten des Ministers »Eines Übereinkommens zwischen zwei Freunden« schmettert der Chor »Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!« Das Prestissimo vereint nun jene Instrumente mit dem Orchester – Piccoloflöte und Trommel, die im vorangegangenen türkischen Marsch noch die Gegner der neuen Ordnung vertreten haben. Instrumentalsatz, Chor und die Worte des Ministers vereinen sich zur Aussage, die Kubricks »Happy-End« bestimmen: Alex hat den Anschluß an die Gesellschaft nicht nur wiedergefunden, vielmehr steigt er nun auch in höhere Regierungskreise auf, die er vorher durch seinen gestelzten Sprachstil lediglich zu imitieren versuchte. Ist die Musik in der ersten Sequenz noch als Fremdton ausgewiesen, um der »Verbrüderung« von Alex und dem Minister Ausdruck zu verleihen, so kann der Zuschauer nun die Quelle orten: ein Rudel von Reportern stürmt das Krankenzimmer, überdimensionale Musikboxen werden in das Zimmer geschoben, die Stilistik der gesamten Szene entspricht dem pompösen Freudenhymnus des Chores. Beethoven wird für Alex nun wieder zum »lieben Vater über’m Sternenzelt«, zum »göttlichen Ludwig van«.

Im emphatischen Jubelgesang werden Alex und der Minister in zukunftsgläubiger Verbrüderungsgeste fotografiert. Beide mimen Optimismus und die »Freude der Götterfunken« im Blitzgewitter der Fotografen, begleitet von den emphatisch gesteigerten Klängen der Musik (Einstellung 5 und 6). Als der Gesang in der großen Chorkadenz mündet (Maestoso, Takt 65), hat Alex eine Vision. Als der Chor im Piano das »Elysium« singt, wendet sich Alex’ Blick langsam zum Himmel. Zur nochmaligen »Freude« nimmt sein Gesicht einen entrückten, geradezu irren Ausdruck an, während der Chor nachdrücklich auf der Freude der Götterfunken insistiert. Zu den instrumentalen Figurationen des anschließenden Jubels – der Schnitt erfolgt exakt im Takt – wird Alex’ Blick zum Himmel aufgelöst. In seiner Vision kopuliert er gewaltsam mit einer Frau in einem Berg Schnee, während eine bürgerlich-viktorianische Gesellschaft applaudiert. Der rasante Rhythmus der Schlußtakte wirkt hier noch aufdringlicher als zuvor, denn Kubrick läßt Alex’ Vision in Zeitlupe laufen, was eher dem Rhythmus des Maestoso entsprechen würde. Nach der letzten himmelstürmenden Bewegung der Streicher endet der Satz, Alex beendet auch seine Geschichte: »Ich war geheilt! All right!«

Die formale und wirkungsanalytische Zuordnung von Bild und Musik in dieser Schlußszene ist eine klare Paraphrasierung. Der Rhythmus der Handlungsdichte – Reporter stürmen das Zimmer, Alex und der Minister im Blitzgewitter – paßt sich der musikalischen Welle des Enthusiasmus vollständig an. Alex ist geheilt: er hat


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