- 382 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zur ars utile umfunktionalisiert wird, was der Auffassung der aufgeklärten Gesellschaft entspricht, der er angehört. Kubrick konzentriert diese Diskussion zusätzlich durch die Verkürzung des Fugato, indem er die Takte 123 bis 170 der Originalfassung herausschneidet (Einstellung 24). Brodskys Kommentar »Kann man nichts machen. Vielleicht ist hierin die Bestrafung zu sehen« löst Kubricks Konstellation der bizarren Synthesizer-Fassung vollständig auf, denn der Kampf von Beethovens Brüdern gegen die Barbaren wird in dieser Szene zu einem Kampf zwischen Alex und der Gesellschaft. Alex symbolisiert hier den Gegner der »Brüder« (der Gesellschaft), da auch er ihre Regeln nicht anerkennen wollte.

Branom und Brodsky wirken in diesem Kampf wie das Oberste Gericht, das über Gut und Böse entscheidet und jeden verurteilt und bestraft, der sich dem System nicht unterordnet. Indem sie Alex gegen Beethoven »allergisch« machen, nehmen sie ihm auch die von ihnen als böse erachtete natürliche Individualität. Die Kamera erfaßt ihre »Allmacht«: sie erscheinen zunächst in Untersicht, während der Diskussion mit Alex erfaßt die Kamera beide jeweils bildausfüllend vor einem kalt belichteten Hintergrund. Somit entlarvt die Art der Einstellungen jene Macht, die sie mißbrauchen. Von ihren hochempfindlichen mechanischen Apparaturen aus blicken sie auf ihr Opfer Alex nieder. Schon bald treten sie – und damit die Gesellschaft – ihren Siegeszug gegenüber Alex an (Fanfarensignal in den Takten 191ff auf der Nahaufnahme von Brodsky). »Der Direktor wird sich freuen«, so Brodsky, gleich darauf setzt der Freudenhymnus der Brüder ein (Takt 213, Einstellung 32). Da die Kamera während des Einsatzes des Freudenhymnus in einer Halbtotalen auf Alex ruht, muß der Hymnus auch aus seiner Sicht beurteilt werden. Er stellt im Sinne Thiels den dramaturgischen Kontrapunkt dar, denn er symbolisiert in diesem Moment den Sieg der Gesellschaft über Alex’ Niederlage, die im Bild gezeigt wird: gefesselt sitzt er in seinem Stuhl und ist seinen Peinigern vollständig ausgeliefert. Damit wird die Hymne auf die Freude über die Verbrüderung aller Menschen zu einer bitterbösen Farce, denn Alex hat nicht die Freiheit zu entscheiden, ob er dieser »Verbrüderung« angehören will. Die besungene Gleichheit und die Freiheit werden hier grausam widerlegt. Beethovens Freudenhymnus ist ein totaler Zugriff auf die Menschheit, daher leicht zu mißbrauchen, wie Kubrick mit dem Film über die Nationalsozialisten andeutet. In Einstellung 38 entsprechen Alex’ Worte dem Sinn des Hymnus: »Jeder Mensch hat das Recht, zu leben, [. . . ] ganz ohne Horrorshow!« Doch der »sanfte Flügel« der Freude (Einstellung 36) wird bereits in der nächsten Einstellung durch Brodsky widerlegt, der darüber entscheidet, was Böse ist und was nicht: »Nein, nein, mein Junge. Du bist noch lange nicht gesund.« Der moralische Imperativ wird wiederum als ein Mittel der Machtausübung mißbraucht. Entgegen der Originalpartitur setzt Kubrick an das Ende der Kantate den berauschenden Orchesterwirbel des Prestissimo, das das Ende der Sinfonie einleitet. Während Beethoven damit den Sieg einer Gesellschaft feiert, in der es »keine zerteilende Mode« mehr gibt, dient der Jubel mit der letzten Großaufnahme auf Brodsky (Einstellung 39) der Verherrlichung der Gesellschaft, die Alex nur durch Umprogrammierung zu einer Maschine in diesen Gesellschaftsbund zwingen kann. Kubricks bitterböse Farce setzt sich durch diesen Kontrapunkt fort, die synthetische Fassung des Satzes deutet auf die Verzerrung von Ideal und Wirklichkeit, die


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