18. Einstellung erfaßt die Kamera sein verzerrtes Gesicht in einer
bildausfüllenden Großaufnahme. Noch führt man seine Übelkeit auf die verabreichte
Droge zurück. Der Text des Tenors »froh, wie seine Sonnen fliegen durch des
Himmels prächt’gen Plan, laufet Brüder, eure Bahn« ist auch hier eine böse
Kontrapunktierung, denn Alex sitzt in seinem Folterstuhl, unfähig sich zu bewegen oder
seine Augen vor den Gewalttaten auf der Leinwand zu verschließen. Er wird
zum Opfer, das Mitleid beim Zuschauer auslöst. Die Rezeptionshaltung Alex
gegenüber wandelt sich während der Ludovico-Behandlung in Anteilnahme an den
Ängsten des Helden. Während der synthetische Tenor den siegreichen Zug der
Brüder besingt, die ihre Gesellschaftsordnung gegen die Barbaren durchsetzen,
verharrt die Kamera auf Alex, der nun merkt, um was für eine Filmmusik es sich
handelt. Der Fremdton wird zum Bildton, da er nun durch Alex als Filmmusik
ausgewiesen wird, Kubricks anfänglicher Imaginationsraum (Beethoven wird im
nationalsozialistischen Film mißbraucht) konzentriert sich nun ganz auf die
Person von Alex, der nun auf die Konstellation von Nationalsozialisten und
Beethoven reagiert. In der 20. Einstellung demonstriert Kubrick sehr brutal die
Vergewaltigung von Alex’ ureigener Sehlust durch eine erschreckende Detailaufnahme
des geklammerten rechten Auges von Alex – das Auge, das vorher durch künstliche
Augenwimpern vergrößert der Sitz seiner Perversion war. In seinem Anfall von
Hilflosigkeit, Wut und Schmerzen (ab Einstellung 20) wird Kubricks Konstellation
offenbar: indem die Ärzte als Vertreter der Gesellschaft Beethovens vierten Satz
zum Triumphmarsch der Freude unter dem Hakenkreuz umfunktionalisieren,
vergewaltigen sie Alex’ ureigenen Gewaltinstinkt, der sich in der Musik Beethoven
manifestierte.
Wie die zweite Sequenz gezeigt hat, galt Beethoven vor seiner Behandlung als Inspirationsquelle des Bösen und Dionysischen. Indem Dr. Brodsky und Dr. Branom Beethovens Musik zum Eigentum einer mechanistischen, sterilen – faschistischen – Gesellschaft machen (hier die Nationalsozialisten), wird der Ausdruck individueller und dionysischer Lust an Gewalt, den Alex in ihr gesehen hat, gewaltsam ausgelöscht. Damit wird auch Alex’ Natur und Individualität gekappt, da er diese mit Beethoven identifiziert hat. Die Mechanisierung Beethovens durch den Synthesizer geht einher mit der Mechanisierung von Alex zu einer hilflosen Maschine. Als solche ist die Musik an dieser Stelle auch psychologisch angelegt, durch den synthetischen Sound ist sie sogar durchsetzt mit einer Variante der physischen Verstörung sowohl von Alex’ als auch der Wahrnehmung des Zuschauers. Die Vergewaltigung seines Kunstverständnisses geht einher mit dem Aufbegehren gegen Auslöschung seiner eigenen Identität. Dies zeigt sich in der Auseinandersetzung zwischen Alex und Brodsky, die durch die fugierte Durchführung paraphrasiert wird. Das Fugato dient hier der affirmativen Bildinterpretation (Thiel). Während es im Kontext der Sinfonie den Kampf der Brüder gegen die »Barbaren« kennzeichnet, die sich gegen die Gesellschaftsordnung des Bundes wenden, wird das Fugato hier Symbol eines Diskurses über Musik, der auf der Divergenz zweier verschiedener Lebensprinzipien beruht – Alex’ dionysisches Lustprinzip und das sterile Bürgerliche der Gesellschaft in der Person von Dr. Brodsky und seiner Kollegin. Die Gegenüberstellung findet ihr visuelles Pendant in dem Schuß-Gegenschuß-Verfahren (Einstellungen 25 bis 30). Alex’ Worte »Beethoven schrieb nur Musik!« verraten seine Auffassung vom göttlich autonomen Kunstwerk (19. Jahrhundert), das jedoch durch Brodsky gewaltsam |