- 379 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Rolle: indem Alex die Sopranistin mit beschwörendfrechem Blick fixiert, legt sich die Musik wie ein Possessivpronomen auf seine Gedanken, die er aus dem off mitteilt. Er wird durch den Gesang zur Gewalt inspiriert, denn als Dim sich über die Sängerin lustig macht, maßregelt er ihn mit seinem Schlagstock. Doch deutet Kubrick die Bedeutung dieses »tödlichen Augenblicks« vorerst nur an, er erfährt wiederum in der Szene in seinem Zimmer seine volle Auswertung. In erster Linie erscheint Alex hier als durchaus intelligenter Musikkenner, der die Bedeutung, die Beethovens Musik für ihn hat, gegen »Dilettanten« wie Dim zu vereidigen weiß. Seine Bewunderung für den klassisch-romantischen Komponisten drückt sich auch in der Imitation des klassischen Sprachstils aus. Auf Dims Frage, warum er ihn geschlagen hätte, antwortet er: »Weil er sich nicht zu benehmen weiß. Weil er keine Manieren hat und kleinen blassen Schimmer, wie man sich beträgt, o mein Bruder.« Sowohl seine Droogs als auch die Zuschauer nennt er stets »Brüder«, das Motiv von Beethovens Verbrüderung aller Menschen, das hier jedoch bisher lediglich den gespreizten Strachstil von Alex’ verrät, jedoch noch nicht aufgelöst wird. Worte wie »feuertrunken«, »Heiligtum« illustrieren die Wirkung, die Beethovens Kantate auf Alex hat, denn sie stachelt seine Phantasie an. Doch die Inspiration zur Gewalt wird in der Maßregelung Dims zunächst nur angedeutet.

Mit dem Zoom auf die Sopranistin kehrt der Bildton und damit der Realitätsgehalt in die Szene zurück. Im Falle von Alex’ Monolog wurde die Musik zum hintergründigen Fremdton, um das Bild um jene psychologische Variante (Schneider) von Alex’ Gedanken zu bereichern. In der dritten Einstellung gibt Kubrick einen weiteren Kommentar ab, der jedoch auch an dieser Stelle noch nicht erklärbar ist. Kubrick beschränkt sich in dieser Sequenz lediglich auf Andeutungen, die sich im Laufe der Dramaturgie auflösen werden. Der Zoom zeigt die Sängerin zuletzt in einer Großaufnahme, als sie singt: »Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.« Da sie ganz offensichtlich eine Anhängerin jenes von Kubrick so negierten Bürgertums ist, so muß man sie auch mit den von ihr besungenen Idealen in Verbindung bringen. Doch dies mutet umso bedenklicher an, da die Gesellschaft bis zu dieser Stelle schon einige Male charakterisiert wurde, beispielsweise durch den Clochard und den Schriftsteller, der seinem Hang zum Voyeurismus während der Vergewaltigung einer Frau nachgibt, aber auch durch die frostige Atmosphäre der Korova-Milchbar. Kubrick hat bis zu diesem Punkt bereits eine Gesellschaft geschildert, die alles andere als brüderlich, sondern kalt und steril ist. In dieser Atmosphäre wirkt der Text von Schillers Ode befremdlich und unpassend. Doch Kubrick begnügt sich an dieser Stelle mit der Andeutung und führt damit jedoch bereits entsprechend der Exposition einige der dramaturgischen Motive in bezug auf den Schluß sein: Alex’ unberechenbare Natur und die Sterilität der Gesellschaft sowie die Frage der Verbrüderung.

4. Sequenz: Alex’ Behandlung/Filmvorführung

Während der Ludovico-Therapie wird Alex’ Hang zur Gewaltbereitschaft gekappt. Der türkische Marsch sowie der anschließende Kantatenteil ertönen hier in einer Synthesizerfassung. Kubrick vollzieht hiermit auf der musikalischen Ebene eine Technik, die sich zu extremen Kameraeffekten analog verhält, denn die »normale Wahrnehmung« des Zuschauers wird irritiert, die Realität entwirklicht, so führt es


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