- 378 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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behandelte sein Personal schlecht und haßte die Franzosen), muß man schließen, daß jener Humanitätsappell eben nur noch im autonomen Kunstwerk durchsetzbar ist, es bleibt ein reines Ideenkunstwerk, dessen ideelle Wertbesetzung zwar Erhabenheit ausstrahlt – dies jedoch nur in dem Augenblick, in dem es erklingt. Die ideelle Kraft, die Beethoven hier mit schon brachialer Gewalt erzeugt, ist nach dem Schlußsforzato schnell erschöpft.
11.2.5.2 Die dramaturgische Umsetzung

3. Sequenz: Korova-Milchbar

In dieser Szene wird zum ersten Mal Alex’ Verhältnis zur Musik Beethovens angedeutet. Kubrick stellt ihn als intelligenten Musikkenner vor. Doch er beläßt es zunächst bei dem Hinweis, denn erst die folgende Szene in seinem Zimmer (hier: 2. Sequenz), in der er zur Musik Beethovens »liebliche Bilder« sieht, offenbart dem Zuschauer die Dimensionen seiner Inspirationen. Alex’ gespaltene Einstellung zu seiner banalen Umwelt äußert sich in der Beschreibung der Gesellschaft in der Milchbar: »Ein paar Sophistos vom Tele-Studio nebenan hockten am Tisch gegenüber, und die Devotschka quiekte und quatschte ’drauf los, als gäb’s keine Bosheit auf dieser Welt!« Damit charakterisiert er bereits eine Gesellschaft, die das Böse ignoriert. Kubrick suggeriert hier die aufklärerische Philosophie des Bürgertums, das alles ablehnt, was nicht durch die Mittel der Vernunft zu beherrschen ist, so auch Bosheit und Gewalt. Der Teufel liegt bei Kubrick stets im Detail, alles hat eine Bedeutung, um seinem Anspruch an ausgefeilter Symmetrie zu genügen. So erscheint auch die Bezeichnung »Sophistos« besonders in Anspielung auf die Sopranistin angemessen, was im antiken Sinne soviel wie »Weisheitslehrer« bedeutet, im modernen Sprachgebrauch auch jemanden bezeichnet, der auf spitzfindige Weise etwas mit Worten zu beweisen versucht - wiederum eine Anspielung auf die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in der das klare Wort die Musik zuungunsten der Instrumentalmusik zu einer dienenden Kunst macht, um die Moral des Menschen zu erheben.

In der frostigen Atmosphäre der Korova-Milchbar wirkt der Jubelgesang der Brüder, die ihren Sieg über die Gegner ihres Bundes feiern, mehr als ungewöhnlich (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.3.3). Der Einsatz ist sachlich motiviert und präsentiert sich als Bildton, die Musik wird damit zum Bestandteil der filmischen Realität. Umso erstaunlicher ist an dieser Stelle auch die Reaktion von Alex, der vorher einige Gegner krankenhausreif geschlagen und eine Frau vergewaltigt hat, denn er beginnt zu schwärmen: »Und, o meine Brüder, für einen kurzen Augenblick war’s, als sei ein großer bunter Vogel in die Milchbar gerauscht.« An dieser Stelle könnte man ebenso den Gegensatz zwischen Rossini und Beethoven filmisch verwirklicht sehen. Rossini als Repräsentant »niederer Kunst« illustriert Alex’ Hang zu einer Gewaltbereitschaft, die sich durch nichts begründet als durch seine dionysische Natur. Dementsprechend begleitet Rossinis Ouvertüre zur Diebischen Elster die im Grunde oberflächlichen Gewaltszenen. Sobald jedoch Beethovens Musik als Ausdruck »hoher Kunst« erklingt, erweist sich Alex als scheinbar sensibler Kunstkenner, der sein Idol mit gestelzten Worten verherrlicht. Der Bezug zur Natur wie der »große, bunte Vogel« deutet auf Alex’ dionysische Natur, mit der er emotional und unberechenbar auf sein Umwelt reagiert. Auch der Blick spielt hier eine wichtige


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