- 377 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zu laut und pathetisch, was letztlich auf die ihm eigene Ideologie zurückzuführen ist. Natürlich verdient die Idee der allumfassenden Brüderlichkeit, in der es keine Schranken gibt, den höchsten Respekt. Den Optimismus, den Beethoven jedoch seinem Ideal gemäß in den moralischen Perfektionismus des Menschen legte, ist in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart zweifelhaft, denn die Geschichte hatte diese bereits vor Beethovens Sinfonie zu grausam widerlegt als daß man diesem Enthusiasmus noch trauen könnte. So kann man als Hörer zwar die großen Worte Schillers, das Pathos mit der großartigen Dynamik, die das mitreißende Finale prägen, zwar für die Dauer ihrer Aufführung nachvollziehen, doch vergißt man dabei nicht, daß man in diesem Moment einem geschichtsphilosophischen Entwurf nachhängt, der sich nicht bewahrheitet hat. Thomas Mann hat diesen semantischen Zwiespalt der Neunten aufgegriffen, indem er seinen Komponisten Adrian Leverkühn vor seinem paralytischen Zusammenbruch die Neunte als Symbol eines trügerischen Idealismus und zusammen mit ihr den Glauben an das Gute und Edle widerrufen läßt: »Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es [die Neunte] zurücknehmen.«141
141 Mann 1995a, S. 631.

Zwar ist dies das 20. Jahrhundert, doch »man ist geneigt, sich auch den ertaubten Beethoven selbst vorzustellen, der sich linkisch und desorientiert vor dem jubelnden Premierenpublikum der Neunten verbeugt: Was realisiert er als Person von der humanitären, menschheitsverbindenden Kraft, die er in seinem so respektvoll aufgenommenen Werk preist?«142

142 Geck 1997, S. 124.
Zu diesem doch beträchtlichen Zwiespalt zwischen Kunstwerk und Realität gesellt sich ein weiteres nicht unwesentliches Detail: der Preisung des Gedankenguts nach Rousseau durch diese scheinbar so humanistische Musik steht die Intoleranz gegenüber denjenigen entgegen, die jenen Enthusiasmus nicht teilen (»Und wer’s nie gekonnt, der stehle sich Weinend aus dem Bund.«). Das Finale macht es deutlich: »Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen« – der Wunsch von der Verbrüderung aller Menschen bleibt ein Traum, er kann nur »überm Sternenzelt« verwirklicht werden. Es scheint, als gründe sich jener neue Bund auf die Freiheit seiner Mitglieder, als könne man das Wort Freude gegen Freiheit austauschen, wie 1990 geschehen während der Deutschen Wiedervereinigungsfeiern. Doch bleibt die Frage: welche Freiheit läßt sie denjenigen, sie sich von dem Enthusiasmus nicht anstecken lassen?143
143 Seidel 1994, S. 270–271; vgl. auch Geck 1997, S. 129–134.
Die strenge Ordnung aufklärerischen Gedankenguts wird hier deutlich: die Komposition will alle Menschen für die »neue Ordnung« gewinnen, bevor diese überhaupt fähig sind, sich frei zu entscheiden. Ihr Zugriff ist ein totaler, daher leicht zu mißbrauchen wie bereits die Restauration zu Beethovens Zeit demonstriert. Insofern muß das Gedankengut des Finale mehr als fraglich wirken. Während Schiller die Gegner nur des Raumes verweist, bekriegt Beethoven sogar die Gegner durch die gewaltigen Durchführungspartien und das tobende Finale. Da Beethoven jedoch selbst nicht viel von der Verwirklichung dieser so von ihm gepriesenen Ideale von Gleichheit und Brüderlichkeit in seiner unmittelbaren Umgebung hielt (er sah auf die Arbeiterschicht nieder,

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