sondern auch ein neues
Gottesbild. Die Brüder begegnen ihrem Gott mit Ehrfurcht und Dankbarkeit,
aber auch mit Selbstbewußtsein. Dieser entspricht dem neuen, vollkommeneren
Menschen. Er braucht die Hölle nicht mehr – so Schiller in den Versen, die
Beethoven außer Acht ließ. Nun beginnt das Solistenquartett (Allegro ma non tanto,
D-Dur, alla breve), die letzte Variation des Freudenthemas, in dem die Freude als
»Tochter aus Elysium« gefeiert wird. Die Schranken der »zerteilenden Mode«
werden niedergerissen, der Chor preist die Brüderlichkeit aller Menschen. Es
scheint, als schaffe die Brüderlichkeit das »Paradies auf Erden«, als hole der
Wechselgesang der Solisten untereinander und mit dem Chor das himmlische »alter ad
alterum«139
in die Welt. Gegliedert wird dieser enthusiastische Gesang durch gedehnte Kadenzen.
Beethoven bezieht sich hier auf die erste Strophe der Schillerschen Ode und paßt die
Reihenfolge der Verse dem musikalischen Verlauf an. In einer figurativ weit
ausgesponnenen H-Dur-Kadenz besingt das Soloquartett (Poco adagio) den »sanften
Flügel« der Freude. Nach einer drängenden Überleitung (Poco allegro) setzt schließlich
drängend das Schluß-Prestissimo ein, das auch Kubrick am Ende seines Films
zitiert.
Bezeichnenderweise treten direkt in den ersten Takten jene Instrumente hinzu, die im vorangegangenen türkischen Marsch noch das Verwerfliche gekennzeichnet haben: Piccoloflöte, Triangel und große Trommel – der symbolische Sieg der Freude, die »geteilte Mode« in der Feier wieder zu vereinen gemäß den religiösen Zeilen von Schillers Ode »Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen« (Takt 5 bis 53). Die Jubelfeier kehrt zurück zu Schillers erster Strophe (ab Takt 54), in der Chor und Orchester sich in einem orgiastischen Prestissimo mit Pauken, Trompeten, Becken und großer Trommel emphatisch hineinsteigern. Der Gesang endet in einer großen Chorkadenz (Maestoso, Takt 65 bis 69), in der der Chor noch einmal die »Tochter aus Elysium« feiert. In Takt 70 beginnen noch einmal instrumentale Figurationen des Jubels. Durch den Tempowechsel wird der Hörer auf einer »Welle des Enthusiasmus« getragen, mit dem Beethoven seinen Glauben an die Ideale der Aufklärung feiert, sowohl die weltlichen als auch die heiligen.140 Dieser Jubel ist der Idee nach unendlich, in der musikalischen Wirklichkeit endet er nach einer letzten »himmelstürmenden« Bewegung der Streicher und schließlich der Bläser.Die neunte Sinfonie ist ohne Zweifel ein Zeugnis einer vergangenen Zukunftshoffnung. Doch die Idee des Ganzen – das Finale – ist das schwierige an der Sinfonie, sowohl aus musikalischer als auch ideologischer Sicht. Im 19. Jahrhundert war der Aufschwung des Bürgertums zum Stillstand gekommen. Auch die Musik zeichnete diesen Vorgang ab. Reine Instrumentalwerke wurden zum Indikator einer romantischen Gesinnung. Denkt man jedoch die Werkidee konsequent zu Ende, so bricht Beethoven sie in seinem letzten Satz auf, in dem er noch einmal gewaltsam zurückholen will, was der bürgerlichen Musik auf ihrem ersten Höhepunkt – der Vokalmusik - so mühelos gelungen war: die Identität von Musik und Gesellschaft. So wendet er sich im letzten Satz von der Instrumentalmusik ab und geht zurück zur Vokalmusik, die der aufgeklärten Gesellschaft einen moralischen Gewinn verschaffen sollte. Jedoch gerät seine Vertonung des Freudengesangs in vieler Hinsicht |